Selbst wer nicht die Geschichten des auf juristische Fragen spezialisierten Autors Ferdinand von Schirach liest, kommt um diese kaum herum. Praktisch jedes Jahr gibt es irgendwo eine Adaption als Film oder Serie, alternativ arbeitet er an den Drehbüchern mit. Dabei soll das Publikum meist ein wenig gefordert werden und Stellung beziehen zu ganz grundsätzlichen Problemstellungen. In Feinde wurde beispielsweise über Folter bei der Verbrechensbekämpfung diskutiert. Gott befasste sich mit medizinisch unterstütztem Selbstmord. Von den Texten von Schirachs mag man halten, was man will. Stoff für ausgiebige Streitgespräche ist zumindest immer reichlich vorhanden. Bei Strafe gilt das aber nur bedingt. Zwar wird die sechsteilige Serie mal wieder als zum Nachdenken anregende Angelegenheit um Gerechtigkeit und die Unterscheidung zwischen richtig und falsch verkauft. Das stimmt aber nicht wirklich.
Gerechtigkeit als Randnotiz
Nur bei drei der sechs voneinander unabhängigen Folgen spielt der Aspekt überhaupt eine Rolle. Bei dem von Helene Hegemann (Axolotl Overkill) inszenierten Subotnik muss eine Anwältin einen Mann verteidigen, dem Menschenhandel, Zwangsprostitution und andere Abscheulichkeiten vorgeworfen werden. Damit ist mal wieder die Frage verbunden, ob es moralisch richtig ist, für die Freilassung eines Menschen zu kämpfen, bei dem klar ist, dass er schuldig ist. In Die Schöffin von Mia Spengler (Back for Good) lässt eine eben solche ihren Gefühlen freien Lauf, weshalb sie als nicht unvoreingenommen aussortiert wird. Der erste Fall von Strafe hat dem Thema aber nichts hinzuzufügen, das man nicht schon oft genug gehört hat. Beim Zweiten könnte man höchstens darüber diskutieren, ob emotional betroffene Menschen „unfair“ urteilen. Nur wird dieser Aspekt so kurz abgehandelt, während es sonst in den 50 Minuten um das Privatleben der Schöffin geht, dass das als Grundlage verlorengeht.
Das gilt auch für Das Seehaus von Patrick Vollrath (7500). Ganz zum Schluss wird darin ebenfalls ein juristisch interessanter Aspekt ausgegraben, der völlig dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden zuwiderläuft. Mit der Geschichte um einen Außenseiter, der sich in seiner Ruhe gestört fühlt, hat dies aber gar nichts zu tun. Auch eine späte Information kommt aus dem Nichts und bleibt für die Handlung ohne Konsequenz, so als stamme sie aus einem ganz anderen Film und wäre nur versehentlich hierein geschnitten worden. Dennoch ist die Folge sehenswerter als die ersten beiden von Strafe, und sei es für Olli Dittrich, der den wütenden Einsiedler spielt. Eine weitere Folge, die von dem Hauptdarsteller geprägt ist, ist Der Dorn von Hüseyin Tabak (Gipsy Queen). Darin spielt Hans Löw einen Museumswärter, der bei der Arbeit vergessen wurde und langsam wahnsinnig wird – horrorartige Visionen inklusive.
Das Rätsel um die Männerleichen
Sehenswert sind zudem zwei Folgen, die eher dem Krimibereich angehören und von Frauen handeln, deren Männer ums Leben gekommen ist. Der Taucher von Oliver Hirschbiegel (Das Experiment) verbindet dies mit einem kleinen Gesellschaftsporträt, wenn das traurige Ende einer kaputten Familie von niemandem gesehen werden darf. Die erzählerisch ambitionierteste Folge von Strafe ist Ein hellblauer Tag von David Wnendt („Er ist wieder da) und fällt dadurch auf, dass sie rückwärts erzählt wird. Das bringt zwangsläufig einige Überraschungen mit sich, wenn sich Szenen erst nachträglich erklären und diverse Wendungen die Ereignisse auf den Kopf stellen. Bis zur letzten Minute darf da gerätselt werden, worum es denn da genau geht.
In der Summe kommen da schon einige Sachen zusammen, für die es sich lohnt, die Serie einmal anzuschauen. Dennoch ist sie letztendlich enttäuschend: Strafe bringt sechs talentierte Regisseure und Regisseurinnen zusammen, dazu noch ein illustres Ensemble. Schön bebildert sind die Geschichten oben drein. Aber es fehlt eben an einem überzeugenden Konzept. Oder überhaupt etwas, das wirklich als Konzept durchgeht. Stattdessen wurden sechs Fälle zusammengetragen, die zwar alle irgendwie mit einer Gerichtsverhandlung zu tun haben, dies in den meisten Fällen aber nur als Alibi-Funktion einbauen und teilweise kaum durchdacht sind. Da wäre es dann doch befriedigender gewesen, Ferdinand von Schirach hätte nicht einfach so getan, als ob das hier ein in sich greifendes Gesamtwerk wäre.
OT: „Ferdinand von Schirach: Strafe“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Mia Spengler, David Wnendt, Patrick Vollrath, Oliver Hirschbiegel, Helene Hegemann, Hüseyin Tabak
Drehbuch: Mia Spengler, Brix Vincent Koethe, David Wnendt, Patrick Vollrath, Hüseyin Tabak, Oliver Hirschbiegel, Bernd Lange, Helene Hegemann, Esther Preussler
Vorlage: Ferdinand von Schirach
Musik: David Sztanke
Kamera: Zamarin Wahdat, Jieun Yi, Jürgen Jürges, Carmen Treichl, Christoph Krauss, Constantin Campean, Hans Löw, Sahin Eryilmaz, Katharina Hauter, Jan Krauter, Ebru Düzgün, Josef Bierbichler
Besetzung: Elisabeth Hofmann, Kathrin Angerer, Jule Böwe, Patrick Joswig, Olli Dittrich, Neshe Demir, Hans Löw, Sahin Eryilmaz, Katharina Hauter, Jan Krauter, Ebru Düzgün, Josef Bierbichler
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