In den 1920ern reisen die beiden Engländerinnen Adela Quested (Judy Davis) und Mrs Moore (Peggy Ashcroft) nach Indien. Dort wollen sie Ronny Heaslop (Nigel Havers) treffen, Adelas Verlobten und Mrs. Moores Sohn aus erster Ehe, der als Richter in der Kolonialverwaltung arbeitet. Die Vorfreude macht jedoch bald Ernüchterung Platz. So gibt es kaum Gelegenheit, das Land und dessen Bevölkerung einmal näher kennenzulernen, da die Briten unter sich bleiben und ihre eigene Kultur ausleben wie in der Heimat. Aber auch die Geringschätzung, mit der diese den Indern begegnen, sorgt gerade bei Mrs. Moore immer wieder für Irritationen. Umso erfreuter ist sie, als sie eines Tages den jungen indischen Arzt Dr. Aziz (Victor Banerjee) kennenlernt und endlich die Möglichkeit eines Austausches bekommt. Doch diese Begegnung steht unter keinem guten Stern …
Abschied eines Meisterregisseurs
Die Filmografie von David Lean ist hinlänglich bekannt. Der englische Regisseur war und ist berühmt dafür, Romanvorlagen auf die Leinwand zu bringen und in großen, schwelgerischen Bildern zu erzählen – das klassische Kino eben. Damit hat er eine ganze Reihe an Klassikern erschaffen, seien es Die Brücke am Kwai, Lawrence von Arabien oder Doktor Schiwago. Nachdem er von den 40ern bis in die 60er hinein sehr produktiv war und ein beeindruckendes Oeuvre hinterließ, verschwand er nach 1970 mehr oder weniger von der Bildfläche. Viele der geplanten Projekte scheiterten, gingen an andere Filmemacher oder wurden gleich ganz eingestellt. Nur einmal noch drehte der Altmeister und feierte damit ein fulminantes Comeback: Reise nach Indien wurde von der Kritik gefeiert, insgesamt elf Mal wurde das Drama für den Oscar nominiert. Darunter auch Lean selbst, es war seine siebte Nominierung für die beste Regie.
Erneut suchte er sich dafür eine literarische Vorlage aus und wurde bei E.M. Forster fündig. Dessen Werke feierten in den 1980ern allgemein eine filmische Renaissance. Dabei waren es vor allem die Filme von James Ivory, welche die Romane des britischen Autors einer breiten Masse wieder zugängig machten: Zimmer mit Aussicht (1985), Maurice (1987) und Wiedersehen in Howards End (1992). Lean kam dem mit seinem Werk zuvor. Wobei Reise nach Indien natürlich nur bedingt mit den anderen Filmen zu vergleichen ist. Schon die Buchfassung hat eine etwas andere Ausrichtung als die anderen Geschichten Forsters. Wo der Schriftsteller sich sonst mit der gehobenen Klasse in England befasste und mit leichter Hand ein Gesellschaftsporträt entwarf, da ist der Ausflug in die Kolonie deutlich politischer. Die Kritik an seinen Landsleuten, die eine fremde Kultur unterwerfen und als minderwertig ansehen, war nicht zu überhören. Heutzutage ist Kritik am Kolonialismus nichts Ungewöhnliches mehr. 1924, als der Roman erschien, sah das noch anders aus.
Aufmunterung zum kulturellen Austausch
Das ist bei der Filmversion nicht anders. Auch wenn es vereinzelt britische Figuren gibt, die sich für eine Gleichberechtigung einsetzen, darunter Mrs. Moore und der von James Fox gespielte Hochschulleiter Richard Fielding, ein Gros der Kolonialisten macht keinen Hehl daraus, die Einheimischen als Menschen zweiter Klasse anzusehen. Und doch will Reise nach Indien nicht einseitig verdammen, sondern ist dank der Positivbeispiele immer auch eine Aufmunterung zum kulturellen Austausch. Dabei schneidet der Film die unterschiedlichsten Themen, von privat bis zu gesellschaftlich und politisch. Da geht es ebenso um Rassismus wie um Religion oder die Liebe, Rückblicke auf die Historie werden mit aktueller Bestandsaufnahme verbunden.
Das klingt erst einmal nach etwas viel Zeug, zumal die Laufzeit mit rund 160 Minuten auch nicht gerade leichtes Vergnügen verspricht. Reise nach Indien gelingt es aber, die verschiedenen Themen und Facetten miteinander zu verbinden, ohne dass es zu aufgesetzt wirkt. Die vier Hauptfiguren des Films sind Individuen mit eigenen Geschichten und Ansichten, die beim Umgang miteinander alles Mögliche einmal ansprechen. Lediglich bei den Quasi-Antagonisten verzichtete Lean, der auch das Drehbuch geschrieben hat, auf Schattierungen oder charakteristische Merkmale. Sie verschwimmen zu einer kaum zu unterscheidenden Masse, die allein durch die Überheblichkeit und Arroganz beschrieben wird. Das ist ein kleines Manko. Befremdlich ist zudem für heutige Augen, wie David Leans Stammschauspieler Alec Guinness mit künstlicher dunkler Gesichtsfarbe einen indischen Gelehrten spielt. Angesichts des Themas des Films ist diese Form kultureller Aneignung ein befremdliches Relikt seiner Zeit.
Opulentes Kino aus einer anderen Zeit
Ansonsten ist Reise nach Indien aber ein nach wie vor sehenswertes Drama, das mit einem großartigen Ensemble und vielfältigen Schauwerten aufwartet. Wie nicht anders von dem Meisterregisseur zu erwarten, gibt es eine aufwendig zusammengestellte Ausstattung und überwältigende Aufnahmen aus Indien. Der Film ist die Art opulent-physisches Kino, die einen heute in Zeiten allgegenwärtiger Computerbilder nostalgisch werden lässt. Gleichzeitig ist der Film erschreckend aktuell, wenn sich vieles von dem, das Lean anspricht, knapp vier Jahrzehnte später nicht anders ist. Gerade in einer Phase, in der Kulturkämpfe heraufbeschworen werden und die Menschen aktiv Gräben ausheben, dienen die diversen Begegnungen hier als Denkanstoß, woher wir kommen und in welche Richtung wir eigentlich gehen möchten in einer Welt, die so eng verknüpft ist wie nie und doch zunehmend auseinanderzubrechen droht.
OT: „A Passage to India“
Land: UK
Jahr: 1984
Regie: David Lean
Drehbuch: David Lean
Vorlage: E. M. Forster
Musik: Maurice Jarre
Kamera: Ernest Day
Besetzung: Judy Davis, Victor Banerjee, Peggy Ashcroft, James Fox, Alec Guinness, Nigel Havers
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Academy Awards | 1985 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Regie | David Lean | Nominierung | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | David Lean | Nominierung | ||
Beste Hauptdarstellerin | Judy Davis | Nominierung | ||
Beste Nebendarstellerin | Peggy Ashcroft | Sieg | ||
Beste Musik | Maurice Jarre | Sieg | ||
Beste Kamera | Ernest Day | Nominierung | ||
Bestes Szenenbild | John Box, Hugh Scaife | Nominierung | ||
Beste Kostüme | Judy Moorcroft | Nominierung | ||
Bester Ton | Graham V. Hartstone, Nicolas Le Messurier, Michael A. Carter, John W. Mitchell | Nominierung | ||
Bester Schnitt | David Lean | Nominierung | ||
BAFTA | 1986 | Bester Film | Nominierung | |
Bestes adaptiertes Drehbuch | David Lean | Nominierung | ||
Bester Hauptdarsteller | Victor Banerjee | Nominierung | ||
Beste Hauptdarstellerin | Peggy Ashcroft | Sieg | ||
Bester Nebendarsteller | James Fox | Nominierung | ||
Beste Musik | Maurice Jarre | Nominierung | ||
Beste Kamera | Ernest Day | Nominierung | ||
Bestes Szenenbild | John Box | Nominierung | ||
Beste Kostüme | Judy Moorcroft | Nominierung | ||
Golden Globes | 1985 | Bester ausländischer Film | Nominierung | |
Beste Regie | David Lean | Nominierung | ||
Bestes Drehbuch | David Lean | Nominierung | ||
Beste Nebendarstellerin | Peggy Ashcroft | Nominierung | ||
Beste Kamera | Ernest Day | Nominierung |
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