Mit ihren Büchern ist Marianne (Juliette Binoche) zu Geld und Ruhm gekommen, sie kann zu jedem Thema etwas schreiben. Doch für ihr kommendes Werk hat sie sich etwas ganz Besonderes vorgenommen: Sie will über eine Jobagentur niedrigste Jobs antreten, um auf diese Weise das prekäre Leben der Unterschicht genauer kennenzulernen und anschließend darüber schreiben zu können. Und so landet sie bei einer Reihe von Putzjobs, einer anstrengender und undankbarer als der andere. Gleichzeitig findet sie dort viel Solidarität und irgendwann auch Freundschaft: Christèle (Hélène Lambert), Marilou (Léa Carne) und Justine (Léa Carne) werden zu engen Bezugspersonen, mit denen sie auch privat Zeit verbringt. Dabei dürfen sie nicht wissen, dass Marianne letztendlich keine von ihnen ist …
Essentiell und doch kaum beachtet
Zu Beginn der Corona-Pandemie gehörten sie zu den Szenen, die einem zu Herzen gingen: Menschen, die in einem Supermarkt an der Kasse arbeiteten oder in Krankenhäusern Leute versorgten, wurden beklatscht. Plötzlich war allen bewusst, wie wertvoll die Arbeit anderer sein kann, selbst wenn man diese im Alltag nicht beachtet. Von dieser akuten Erleuchtung ist mehr als zwei Jahre später kaum etwas übrig, die bedeutenden Leistungen werden wieder als selbstverständlich angesehen. Der einzige Trost, der denjenigen bleibt, die kurz gefeiert und nun wieder ignoriert werden: Es geht richtig vielen Leuten so. Viele der essentiellen Arbeiten werden nur dann wahrgenommen, wenn sie mal jemand nicht macht. So wie in Wie im echten Leben, wenn auf einmal die Putzkräfte nicht da sind und man merkt, wie viel Dreck man ihnen immer wieder hinterlässt.
Inspiration für den Film war dabei ein Buch der französischen Journalistin Florence Aubenas. Diese hatte 2010 in Le Quai de Ouistreham von ihren eigenen Undercover-Erfahrungen berichtet und damit der Welt da draußen gezeigt, was es bedeutet, am unteren Ende zu leben, schwere Arbeit für wenig Geld zu machen. Und eben den Dreck anderer wegräumen zu müssen, die nicht einmal wissen, dass es dich gibt. Denen es vielleicht auch völlig egal ist. In Frankreich sorgten diese Erzählungen für Bestürzung, auch wenn konkrete Verbesserungen ausblieben. Inzwischen ist das Werk aus dem Bewusstsein entschwunden, auch wenn es heute kein Stück weniger aktuell ist als damals. Das zeigt Wie im echten Leben. Zwar handelt es sich hierbei nicht um eine direkte Adaption der Vorlage. Regisseur und Co-Autor Emmanuel Carrère begibt sich in den fiktionalen Bereich. Und doch wirkt das alles erschreckend authentisch.
Wie aus dem Leben gegriffen
Tatsächlich ist der Film bewusst dokumentarisch angelegt. Wäre da nicht der international bekannte Star Juliette Binoche, die eine treibende Kraft hinter der Entstehung des Dramas war, könnte man meinen, dass da jemand einfach mit seiner Kamera mitgelaufen ist und echten Putzfrauen bei der Arbeit zusieht. Zum Teil stimmt das sogar: Carrère, der eigentlich überwiegend als Autor arbeitet und nur recht selten in die Welt des Films einsteigt, verpflichtete für Wie im echten Leben überwiegend Laiendarstellerinnen. Diese arbeiten tatsächlich in diesem Bereich und waren dadurch in der Lage, dem Regisseur und dem Filmteam zu zeigen, wie ihre Arbeit aussieht. Vergleichbar zu dem Buch wird dadurch ein Teil der Gesellschaft sichtbar, der immer dann schafft, wenn niemand hinsieht. Ein größerer Abschnitt erzählt von einer Putzkolonne, die unter enormem Zeitdruck die Kabinen einer Fähre wieder in Ordnung bringen muss. Bei manchen geht das schnell. Andere demonstrieren die Achtlosigkeit derjenigen, die darin schliefen und alles versauten.
Stärker noch als etwa Full Time oder In den besten Händen – zwei weitere französische Dramen, welche auf berufliche Missstände hinweisen – ist Wie im echten Leben eine Verneigung vor denjenigen, die diese Arbeit ausführen, wieder und wieder, kaum davon leben können und denen wir doch so viel verdanken. An der Seite von Marianne lernen wir die Frauen kennen, lernen ihre Geschichten kennen. Aus den Unsichtbaren werden Individuen, die einem mehr und mehr ans Herz wachsen. Und eben auch der Protagonistin, die inmitten des Schmutzes und der harschen Worte eine weitere Familie findet. Das klingt schön, klingt versöhnlich. Vielleicht gar ein wohltuendes Sozialmärchen über das Überwinden von Klassen? Es ist eine der großen Stärken des Films, dass er es sich aber nicht so einfach macht, wie man das denken, womöglich auch erhoffen darf. Zwar werden hier tatsächlich Gräben überwunden und aufgezeigt, wie es auf der anderen Seite aussieht. Doch am nächsten Morgen sind die Gräben immer noch da. Und am Morgen drauf auch. So wie die verdreckten Toiletten, zerknüllten Decken und kaum mehr zu gebrauchende Einrichtung, die schon auf die Frauen warten.
OT: „Ouistreham“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Emmanuel Carrère
Drehbuch: Emmanuel Carrère, Hélène Devynck
Vorlage: Florence Aubenas
Musik: Mathieu Lamboley
Kamera: Patrick Blossier
Besetzung: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine, Patricia Prieur, Evelyne Porée, Didier Pupin
Wer mehr über die Arbeit an Wie im echten Leben erfahren möchte: Wir haben uns im Interview mit Regisseur Emmanuel Carrère über unsichtbare Berufe und mangelnde Anerkennung unterhalten.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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César | 2023 | Beste Hauptdarstellerin | Juliette Binoche | Nominiert |
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