Kerstin (Elsie de Brauw) ist zwar erst 64, aber schon seit Jahren unheilbar krank. Sie kann kaum noch sprechen, liegt nur noch im Bett und ist bei allem auf die Hilfe der Pflegerinnen und Pfleger in einem Heim angewiesen, das sie höchstens im Rollstuhl verlassen kann. Inzwischen ist sie so geschwächt, dass sie nur noch sterben möchte. Aktiv kann sie aber kein tödliches Mittel einnehmen, eine Sterbehilfe durch einen Arzt ist daher nicht möglich. Daher beschließt Kerstin, nichts mehr zu essen und zu trinken, um das Sterben zu beschleunigen. Kerstins Tochter Juliane (Birte Schnöink) will sie dabei begleiten. Sie möchte sich dem langsamen Dahinsiechen ihrer Mutter stellen, ihr Trost und Beistand spenden in dem kargen, oft dunklen Zimmer des Heims, mehr als 14 Tage alles mit ihr teilen: die ängstlichen, schmerzhaften, aber auch die schönen und intensiven Momente.
Ein Abschiedstanz
Irgendwann im letzten Drittel des Films steht die Kamera in einem großen, bis zum Boden verglasten Raum, offenbar eine Art Kantine oder Speisesaal. Im Gegenlicht geht der Blick hinaus auf die Hügel eines deutschen Mittelgebirges. Am Rande des Bilds sitzt die Mutter reglos im Rollstuhl. Das Interesse der Szene gilt einer Tänzerin. Erst bewegt sie sich sanft und gleitend, wie beim chinesischen Tai Chi. Aber plötzlich springt sie voller Energie in die Höhe, lässt die Arme fliegen, bäumt sich auf, geht zu Boden, springt wieder hoch, wie beim Breakdance. Die junge Tänzerin ist Kerstins Pflegerin. Kurz zuvor hat sie ihr gesagt, dass sie nun zwei Wochen Urlaub habe und dass man sich nicht wiedersehen werde. Der Abschiedstanz drückt etwas aus, was sich kaum in Worte fassen lässt, vielleicht Wut, vielleicht Zärtlichkeit, vielleicht von beiden etwas. Er begegnet dem Tod so ähnlich wie der Film. Begreifen kann man nicht, was beim Sterben passiert. Aber man kann versuchen, eine künstlerische Form dafür zu finden.
Regisseurin Jessica Krummacher erzählt in ihrem zweiten langen Spielfilm von etwas, was sie selbst erlebt hat. Vor einigen Jahren ist ihre eigene Mutter auf ähnliche Weise gestorben. Der Filmemacherin sind Stoffe wichtig, mit denen sie sich auskennt. Eigentlich hat sie in München Dokumentarfilm studiert, weil sie etwas Authentisches auf die Leinwand bringen wollte. Doch dann merkte sie, dass die Realität immer auch subjektiv gefärbt ist. Mit ihrem Langfilmdebüt Totem (2011) wechselte Jessica Krummacher ins Spielfilmfach. Doch die Suche nach dem Echten, dem Nicht-Ausgedachten hat sie mitgenommen, auch in ihren zweiten Spielfilm Zum Tod meiner Mutter. Wieder versucht sie, Erfahrungen durch die Form der Kunst zu verdichten und dadurch eine innere Wahrheit freizulegen. Auf die hundertprozentige Treue zum Erlebten kommt es dabei nicht an, eher im Gegenteil. Durch die Fiktionalisierung rückt die Künstlerin den Stoff ein Stück weit von sich weg. Das verschafft ihr und ihrer Erzählung die nötige Freiheit.
Kleine Fluchten
Es sind lange, oft statische Sequenzen, in denen die Kamera von Gerald Kerkletz Tochter Juliane bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter begleitet. Nicht immer spielen sich die Szenen im Sterbezimmer ab. Es gibt Besuche von und bei Freunden, kleine Fluchten wie das Rauchen im Flur. Zu Beginn gönnt sich Juliane noch einen Kurzurlaub in der Pfalz, geht wandern und mit den Freunden Pfälzer Spezialitäten essen, die der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl einem gesamtdeutschen Publikum und manchen seiner internationalen Gäste schmackhaft machen wollte. Solche teils humorigen Erfahrungen jenseits des Pflegeheims, teilweise auch witzige Erlebnisse mit der Sterbenden selbst, sind wie eine Erholung von der Erfahrung, die die filmischen Mittel auch den Zuschauerinnen und Zuschauern auferlegen. Die strenge Form, der genau kalkulierte langsame Rhythmus bilden die Erfahrung des Wartens nach: das endlose, auch von der Mutter geäußerte Hoffen, dass es schneller gehen möge. 135 Minuten dauert der Film, der kompromisslos den realen Prozess einfängt, in sorgfältig komponierten, Tableau-artigen Einstellungen.
Der kunstvolle filmische Umgang mit Zeit und Raum verhindert auch die sonst im Leben beliebte und in vielen Fällen sinnvolle Verdrängung. Wer sich Jessica Krummachers Film aussetzt, muss die Haltung des Wegschauens aufgeben. Gerade weil der Film nichts beschönigt, wird die am Ende positive Erfahrung, die Juliane macht, umso glaubhafter. Ihre Hingabe entwickelt sich trotz heftiger Ängste und Zweifel zu einer Liebeserklärung. Ob man sich als Zuschauer dem aussetzen möchte, ist eine andere Frage. Sie muss individuell unterschiedlich ausfallen, je nach eigenem Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Tod.
OT: „Zum Tod meiner Mutter“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Jessica Krummacher
Drehbuch: Jessica Krummacher
Kamera: Gerald Kerkletz
Besetzung: Birte Schnöink, Elsie de Brauw, Johanna Orsini, Susanne Bredehöft, Gina Haller
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