Mit 95 Jahre ist Lucy nicht nur die älteste transsexuelle Frau Italiens, sondern auch eine der wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers in Dachau. Die Regisseure Daniele Coluccini und Matteo Botrugno (Tainted Souls) haben nun einen Dokumentarfilm über diese auch darüber hinaus faszinierende Persönlichkeit gedreht. Darin zeigen sich trotz aller unfassbar schrecklichen Erfahrungen und Traumata ein (Über-)Lebenswillen und eine positive Grundeinstellung, wie sie selbst manche Menschen, die unter wesentlich weniger schlimmen Bedingungen gelebt haben, nicht an den Tag legen. Der Film beginnt damit, wie Lucy einen Brief von der KZ Gedenkstätte in Dachau erhält. Wie wir später erfahren, befindet sich darin eine Einladung, an der Feier zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ teilzunehmen.
Die Fragen, ob Lucy wieder an diesen Ort des Grauens zurückkehren wird und welche Gedanken und Gefühle ein solcher Besuch bei ihr auslösen, stehen allerdings gar nicht im Zentrum des Films. Denn den Brief lässt sie erst einmal ungelesen liegen. Stattdessen dokumentiert der Film Lucys Alltag und zeigt sie zum Großteil in Gesprächen mit Freunden, Familienmitgliedern und ihrer Pflegerin, von denen sie Besuch bekommt. Mit ihnen sieht sie sich zum Beispiel alte Fotoalben an und erzählt aus ihrer bewegten Vergangenheit. Dazu gehören natürlich Kriegserlebnisse, aber auch die spätere Phase ihres Lebens, in der sie sich für sexuelle Dienstleistungen bezahlen ließ und in ihren Worten zur „Hure“ wurde. Wie offen Lucy über ihre teils frivole Vergangenheit spricht, ist dabei herrlich erfrischend und sorgt immer wieder für Heiterkeit.
Ein ereignisreiches Leben
Natürlich hat sie aber auch viel Negatives zu berichten. Der Verlust ihrer Tochter, die im Alter von 58 Jahren starb, war ein einschneidendes Erlebnis. Ebenso der sexuelle Missbrauch durch einen Priester, den sie als Kind erfahren musste und der ihr jeden Glauben an Gott nahm. Und natürlich die Zeit im Konzentrationslager, für deren Beschreibung sie zum Teil gar keine Worte findet. Was sie dort gesehen habe, sei „verrückt“ gewesen, sagt sie einfach nur, ohne ins Detail zu gehen. Völlig unkommentiert lassen die Regisseure ihre Protagonistin berichten, schließlich hat Lucy genug Interessantes zu erzählen, sodass es keiner Kommentare oder Expertenstimmen bedarf, um hier einen spannenden Film entstehen zu lassen. Ein Hauch Leben besteht fast nur aus Gesprächen und Lucys Erzählungen; gelegentlich zeigt der Film sie, wie sie allein Besorgungen macht und sogar noch Auto fährt. Für eine Frau in ihren Neunzigern lebt Lucy also äußerst selbständig, hat aber gleichzeitig ein dichtes soziales Netz aus Freunden und Familienmitgliedern, auf die sie sich verlassen kann.
Auf ihre Zeit in Dachau zurückblickend sagt sie, sie sei damals gestorben. Nur ihr Körper sei danach noch am Leben gewesen. Allein schon, dass der Film Lucys Erinnerungen an den Krieg und das KZ festhält, macht ihn wertvoll. Dass Ein Hauch Leben aber mehr ist, als eine zwar lehrreiche, aber deprimierende Geschichtsstunde, ist Lucys schon erwähnter positiver Grundeinstellung zu verdanken. Über Männer, ästhetische Körper und Genuss hat sie jedenfalls mindestens genauso viel zu erzählen, wie über die dunkelsten Zeiten ihres Lebens. Schließlich trägt sie auch noch ein selbst geschriebenes Gedicht vor und wir erfahren von einer ihrer weiteren Leidenschaften: „Weltraumserien“ und Science-Fiction-Filme. Immer wieder lässt sie sich mit DVDs versorgen, um sich vom Fernseher in andere Welten entführen zu lassen. Die damit verbundenen Szenarien und Fragestellungen faszinieren sie. Gibt es Lebensformen auf anderen Planeten? Ist es woanders besser? Sollten wir die Erde verlassen? Als der Film am Ende noch einmal auf das KZ zurückkommt, sagt Lucy, wenn Gott wirklich existieren würde, wäre so etwas wie in Dachau niemals passiert. Es liegt also in unserer Hand, die Welt zu gestalten und dafür zu sorgen, dass etwas Ähnliches nie wieder passiert.
OT: „C’è un soffio di vita soltanto“
Land: Italien, Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Daniele Coluccini, Matteo Botrugno
Drehbuch: Daniele Coluccini, Matteo Botrugno
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