China zur Zeit der Kulturrevolution in den 1970ern: Häftling Zhang (Zhang Yi) bricht aus einem Umerziehungslager aus. Er flieht stundenlang über die Sanddünen der Wüste Gobi, um in einem Oasendorf eine Filmvorführung zu sehen. Nicht dem Hauptfilm gilt sein Interesse, sondern der Wochenschau. Dort soll für eine Sekunde seine mittlerweile 14-jährige Tochter zu sehen sein. Als er verhaftet wurde, war sie acht, seitdem hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr. Für die eine Sekunde Wochenschau riskiert der verzweifelte Mann alles: eine noch härtere Strafe, ja sogar sein Leben. Aber als er im Dorf ankommt, ist die Vorführung schon vorbei. Die Filmrollen werden in die Satteltaschen eines Motorrads gepackt, damit sie der mobile Filmvorführer (Fan Wie) am nächsten Tag in einem anderen Dorf abspielen kann. Aber das könnte schwierig werden, denn Zhang beobachtet, wie das Mädchen Liu (Liu Haocun), eine verwahrloste Herumtreiberin, eine Filmrolle aus der Tasche des abgestellten Motorrads klaut. Es beginnt eine Jagd, als ginge es um Leben und Tod, nicht um zwei Stunden Unterhaltung. In der Tat treibt Liu ein existenzielles Motiv zu ihrem Diebstahl.
Zensur schlägt zu
Man kann über Eine Sekunde nicht schreiben, ohne seine skandalöse Zensurgeschichte zumindest zu streifen. 2019 wurde der Film des chinesischen Meisterregisseurs Zhang Yimou (Rotes Kornfeld, 1987) von der Berlinale zurückgezogen, obwohl er schon mehrere Zensurprozesse durchlaufen hatte. Das Verbot ereilte den Film buchstäblich in letzter Sekunde, nämlich als das Festival schon lief. Die offizielle Begründung: technische Probleme in der Postproduktion. In Wahrheit aber hatten die Chinesen die Zensurschraube weiter angezogen. Um den Film dennoch zu retten, musste der Regisseur Szenen nachdrehen und das vorhandene Material zweimal umschneiden. Wie kritisch die ursprüngliche Fassung die Kulturrevolution behandelte, lässt sich derzeit nicht rekonstruieren. Denn Zhang Yimou (Jahrgang 1950) lebt weiter in seiner Heimat und darf sich wohl keine kritische Bemerkung über das Vorgehen der Behörden erlauben. Schon seit Beginn seiner Karriere steht der Mitbegründer der sogenannten „Fünften Generation“ chinesischer Filmemacher unter politischem Druck. Viele seiner Filme wurden im Ausland gefeiert, zu Hause aber verboten.
Trotzdem bestätigt sich die alte Weisheit, dass Zensoren Kunstwerke nicht unbedingt schlechter, sondern raffinierter machen. So wütet zu Beginn von Eine Sekunde ein grandioser Sandsturm. Der Himmel verdunkelt sich, der Wind peitscht den Geflohenen vor sich her, die Tonspur tost. Man könnte sagen, es sind stürmische Zeiten, aber die Bilder beinhalten viel mehr, als was man in Worte fassen kann. Sie lassen Gewalt spüren, auch Einsamkeit und den Kampf gegen tausendfache Übermacht. Sie sind existenziell, eindringlich und zeugen in ihrer Erhabenheit von souveräner ästhetischer Meisterschaft. Der Sturm sagt mehr, als es explizite Bilder aus den Lagern könnten. Überhaupt erzählen Farbe, Licht und Bildkomposition eine komplexere Geschichte als der vergleichsweise schlichte Plot um die gestohlene Filmrolle.
Hommage ans Zelluloid
Man sollte sich also von der nostalgisch-romantischen Kinoverklärung, die an Cinema Paradiso (1988) erinnert oder ganz aktuell an Das Licht, aus dem die Träume sind, nicht auf eine falsche Fährte locken lassen. Zwar wird das mit Humor gespickte Drama zu Recht als „warmherziger Film über die Liebe zum Kino“ beworben. Doch in die Hommage an das Zelluloid und die handwerkliche Kunst der Projektion mischen sich weitere Bedeutungsschichten. Der Regisseur, dessen Familie selbst Opfer der Kulturrevolution wurde, schildert ein biografisch gefärbtes Drama: von Überlebenskünstlern, die unter dem Druck der Verhältnisse nicht zerbrechen, von verstohlener Solidarität und von einer Willensstärke, deren Energie sich unter widrigen Verhältnissen potenziert. Nicht zuletzt handelt der Plot auch von einer raffiniert erzählten, äußerst fein gesponnenen Vater-Tochter-Geschichte. Im Gegensatz zu den offiziellen Propaganda-Filmen der Zeit, die hier zitiert werden, kommt sie ohne Sentimentalität aus und berührt dadurch umso stärker.
Seit den 2000er Jahren hatte sich Zhang Yimou selbst dem politischen Druck etwas entzogen. Er war ins Kampfkunst- und Historiengenre ausgewichen, etwa in Hero (2002) oder Shadow (2019). 2008 belohnte ihn der Staat quasi mit dem Auftrag, die Eröffnungs- und Schlussfeier der Olympischen Spiele zu inszenieren. Mit seiner jüngsten Arbeit aber kehrt der Regisseur zu seinen weniger bombastischen Anfängen zurück. Unter der Schale eines vermeintlich kleinen Films verbirgt sich eine vieldeutig schimmernde Perle.
OT: „Yi miao zhong“
Land: China
Jahr: 2020
Regie: Yimou Zhang
Drehbuch: Yimou Zhang, Jingzhi Zou
Musik: Loudboy
Kamera: Xiaoding Zhao
Besetzung: Yi Zhang, Haocun Liu, Wie Fan, Ailei Yu, Shaobo Zhang, Li Yan
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