Marta (Susanne Wolff) lebt in einer großen alten Villa mit Sohn Nathan (Eliah Gezer) und dem deutlich älteren Roland (Ulrich Matthes). Sie scheint glücklich mit dem Journalisten und Schriftsteller zu sein, der das großzügige Haus im Grünen von seiner reichen Familie geerbt hat. Auch wenn es nicht sein eigener Sohn ist, liebt Roland den Sechsjährigen wie ein Vater. Die private Idylle sowohl dem manchmal zynischen Linksliberalen wie auch Marta wohl erst spät im Leben begegnet. Die Mittvierzigerin arbeitet als Frauenärztin im Krankenhaus und wird den Jungen – ihr ein und alles – vermutlich mit Ende 30 bekommen haben. Wer der leibliche Vater ist, erfahren wir nicht. Es bleibt Martas großes Geheimnis. Bis Valmir (Florist Bajgora) auftaucht, ein Wanderarbeiter aus dem Kosovo.
Im Labyrinth des Baumarkts
Selten war ein Gang durch den Baumarkt so spannend. Zunächst scheint alles ganz normal, Marta schäkert per Handy mit Roland, von dem sie wissen will, welches Ersatzteil für den kaputten Abfluss sie denn nun besorgen soll. Aber dann ist der sechsjährige Sohn wie vom Erdboden verschwunden. Und die Kamera stürzt sich mit der Mutter in das Labyrinth der Einkaufsstätte. Erkundet die langen Gänge, die in ihrer Höhe plötzlich wie Schluchten wirken. Läuft hinaus in den Baustoffbereich, dann wieder hinein in die leergefegte Halle – es muss wohl ein kundenarmer Montagmorgen sein. Nah an der wachsenden Verzweiflung von Marta erspürt Kameramann Andreas Köhler das Aufsteigen der Angst um den Sechsjährigen bis hin zur hellen Panik. Was wäre, wenn der über alles geliebte Junge entführt worden wäre?
Das ist einerseits alltäglich. Kinder lassen sich vom überbordenden Warenangebot nun mal gerne locken, eigene Wege zu gehen. Anderseits ziehen Regisseur Sebastian Ko und Drehbuchautorin Karin Kaçi von Anfang an einen doppelten Boden ein. Irgendetwas stimmt nicht an Martas Reaktion, der Susanne Wolff ein schillerndes Oszillieren zwischen zupackendem Optimismus und undurchsichtiger Vergangenheit verleiht. In der Familienidylle schwingt ein Geheimnis mit. „Du fehlst mir“, sagt Partner Roland, als Marta ihm den Nacken massiert. „Wieso“, gibt sie zurück, „ich bin doch da“.
Fassade mir Rissen
Die Versatzstücke der Kombination von Familiendrama und Thriller sind nicht neu: das einsame Haus, die schaurig-schöne Moorlandschaft, die bedrohliche Musik. Aber ähnlich wie in seinem Debüt Wir Monster (2014) setzt Regisseur Sebastian Ko sie so zusammen, dass die Fassade gutbürgerlicher Alltäglichkeit Risse bekommt. Atmosphärisch dicht erkundet die Inszenierung die Sehnsüchte dreier Menschen nach einer Geborgenheit, die sie um keinen Preis verlieren oder – im Falle des in Deutschland fremden Valmir – um jeden Preis erobern wollen. In welche Abgründe sie dabei eintauchen, umkreist der Film in sorgfältig komponierten Einstellungen, die das in jedem Menschen schlummernde Böse nicht einfach behaupten, sondern Schicht für Schicht freilegen – bis hin zu schockartigen Durchbrüchen.
Geborgtes Weiß gehört zu den Filmen, die ähnlich wie der demnächst anlaufende Le Prince die linksliberale Weltoffenheit gegenüber Migranten auf den Prüfstand stellen. Gilt die Willkommenskultur auch dann, wenn sie das eigene Glück bedroht? Und zeigen sich tief sitzende Vorurteile nicht erst, wenn es um engste Beziehungen geht, in die das Fremde vordringt? Der Mix aus Drama und Genre gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber der Film, mit dem Sebastian Ko nach einigen „Tatorten“ und Fernseharbeiten ins Kino zurückkehrt, beharrt hintergründig darauf, dass der Wohlstand des Westens erkauft ist mit dem Leid von Menschen aus ärmeren Regionen. Und dass es keinen Grund für ein Menschenbild gibt, das eine fleckenlose Weste für möglich hält. Schon die alten Griechen wussten: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch“ (Sophokles).
OT: „Geborgtes Weiß“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Sebastian Ko
Drehbuch: Karin Kaçi
Musik: Frans Bak
Kamera: Andreas Köhler
Besetzung: Susanne Wolff, Ulrich Matthes, Florist Bajgora, Elia Gezer, Bruno Cathomas, Heike Trinker
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