Es ist das Jahr 2069. König Alfredo (Mauro Costa) liegt auf dem Sterbebett und lässt sein Leben nochmal an sich vorbeiziehen. Er erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, seinen Vater, der ihm die Liebe zum Wald nähergebracht hat und seine Mutter, die stets unzufrieden mit seinen Entscheidungen war. Nicht royal genug sein Verhalten. Der größte Dorn im Auge: Alfredos Zeit bei der Feuerwehr. Angefangen hat er dort, um die Wälder zu schützen, geblieben ist er wegen seiner Liebe zu Alfonso (André Cabral).
Ansätze der Nouvelle Vague
Es lässt sich vorwegsagen, dass hinter diesem ungewöhnlich anmutenden Szenario auch ein sehr einzigartiger Film verbirgt. Der erste Akt von Irrlicht erinnert inszenatorisch und erzählerisch stark an die Werke der Nouvelle Vague. Der Schnitt, das Schauspiel und die Dialoge dienen vor allem der Verfremdung, wie sie Brecht beschreibt. Besonders herausstechend ist ein Bruch der vierten Wand, mit einem Monolog Alfredos, der sich direkt ans Publikum wendet.
Und zwar zitiert Alfredo hier die Rede Greta Thunbergs, die sie 2019 bei der UN-Klimakonferenz in Madrid gehalten hat. Grundsätzlich ist Irrlicht sehr gesellschaftskritisch und spricht viele Themen an, wie Klimawandel oder soziale Ungleichheit und die daraus resultierenden Folgen. Wie auch typisch für die Nouvelle Vague tut Regisseur und Drehbuchautor João Pedro Rodrigues (Der Ornithologe) das oft im Monolog und präsentiert sich nachdenklich.
Liebesgeschichte auf der Feuerwache
Einen schlagartigen Wechsel erlebt diese Stimmung nach Ende des ersten Akts, wenn Alfredo seine Familie verlässt und auf der Feuerwache anfängt. Letztlich geschieht dies zeitgleich mit dem Antritt des Weges zur Selbstbestimmung Alfredos. Nahbar und gefühlsbetont wird von nun an die Liebe zwischen Alfredo und Alfons, den er auf der Feuerwache kennenlernt, erzählt. Zentral ist dafür vor allem eine Tanzchoreographie, die sich von einer Gruppenchoreographie in ein Duett zwischen den beiden Liebenden entwickelt. Die Choreographie beeindruckt sehr und ist wahnsinnig toll gefilmt. Sie weist zugleich große Ähnlichkeit mit den klassischen Musicals etwa eines Fred Astaires auf, modernisiert diese aber genug, um etwas Spannendes, Eigenes zu bilden.
Der Fokus bleibt im weiteren Film zwar weitestgehend auf der Liebesgeschichte, allerdings sind viele der eingeführten Themen auch weiter präsent. So werden gerade Rassismus und die schlecht aufgearbeitete Kolonialgeschichte Portugals unter der immerwährenden Präsenz des Gemäldes Die Hochzeitsmaskerade von Jose Conrado Roza, das wie etwas Unabgeschlossenes zwischen den beiden Liebenden unterschiedlicher Hautfarbe steht, zum Thema.
Besonders hervorstechend sind außerdem die sehr expliziten Darstellungen von Sex und insbesondere Penissen, die beispielsweise auch als Identifikationsmerkmale verschiedener Wälder in eine Präsentation verwendet werden. Das ist genauso absurd wie es klingt und trägt stark zur aufgelockerten, komödiantischen Atmosphäre bei und zeigt dadurch, was sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung wirklich bedeutet.
Zu viel des Guten?
Wie die bisherige Rezension vielleicht vermuten lässt, ist Irrlicht ein sehr vollgepackter Film, der seinen Fokus, seine Stimmung und Erzählweise und sogar sein Genre, teilweise mehrfach, wechselt. Das ist einerseits spannend, sorgt in den gerade 67 Minuten Laufzeit aber mitunter dafür, dass viele Ideen nicht vollendet wirken, viele Themen nur angerissen werden und dadurch ihrer Komplexität nicht gerecht behandelt werden.
Damit ist Irrlicht eine Sorte Film, die vielen Leuten sauer aufstoßen dürfte. Vollgepackt mit Symbolik, verschachtelt und kryptisch erzählt und dennoch oft zu simpel und vom Thema abkommend. Der erste Akt, der wie beschrieben sehr an die Nouvelle Vague erinnert und durch seinen dekonstruktivistischen und von Verfremdung geprägten Ansatz viele Ideen durch den Raum wirft und grundsätzlich sehr schnell ist, wird letztlich durch den Wandel des Films im weiteren Verlauf mehr und mehr selbst dekonstruiert.
Es wirkt, als wolle der Film fragen, was denn die ganze Kritik soll, schließlich ginge es am Ende doch sowieso nur darum, glücklich und erfüllt zu leben. Das ist zwar irgendwo richtig, funktioniert aber nicht nur erzählerisch nicht einwandfrei, sondern sorgt auch dafür, dass der Film seine konzeptuelle Ebene verlässt und sich auf einer individuellen Ebene niederlässt. Das ist nicht automatisch etwas Schlechtes, allerdings verlagert der Film seine angesprochenen Probleme damit auch auf diese individuelle Ebene, was bei jenen Problemen nicht allzu zielführend ist.
Der Klimawandel und seine Folgen können nicht aufgehalten werden, weil ein Mann Waldbrände löscht. Die Strukturen von Homophobie und Rassismus sind nicht aufgebrochen, nur, weil ein weißer und ein schwarzer Mann sich verlieben. Irrlicht zeigt zwar, wie einfach und erfüllend ein engagiertes und selbstbefreites Leben sein kann und gibt die Strukturen moderner Probleme somit der Lächerlichkeit preis, versäumt es aber, die Überindividualität dieser Probleme abzubilden.
OT: „Fogo-fátuo“
Land: Portugal, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: João Pedro Rodrigues
Drehbuch: João Pedro Rodrigues
Musik: Paulo Bragança
Kamera: Rui Poças
Besetzung: Mauro Costa, André Cabral, Joel Branco, Oceano Cruz, Margarida Vila-Nova, Miguel Loureiro
Wer mehr über den Film erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, ein Interview mit Regisseur João Pedro Rodrigues zu führen und mit ihm über die Arbeit an Irrlicht zu sprechen.
Cannes 2022
Filmfest München 2022
Toronto International Film Festival 2022
Transit Filmfest 2022
International Film Festival Rotterdam 2023
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