Als Teenager gingen Lea (Jessica Schwarz), Steffi (Julia Becker), Toni (Petra Schmidt-Schaller) und Maja (Nora Tschirner) durch dick und dünn. Die jungen Mädchen nannten sich die „Muskeltiere“ und pfiffen auf alles, was Eltern und andere Autoritäten von ihnen verlangten. Sie lebten nach ihrem eigenen Codex. Der verlangte, dass die übrigen drei unbedingt dabei sein müssen, falls eine mal heiratet. 26 Jahre sind ins Land gegangen und nun fordert Maja, die inzwischen in Italien lebt, das Gelöbnis von damals ein. In nur zwei Tagen steigt das große Fest und weder Lea noch Steffi oder Toni passt der spontane Beschluss ihrer flippigen Freundin so richtig in den Kram. Aber: einmal „Muskeltiere“, immer „Muskeltiere“. Und so findet sich das Trio zuerst am Flughafen und dann in einem Mietwagen wieder, mit dem sie die restlichen 250 Kilometer durch Italien kurven sollen.
Bröckelnde Fassaden
„Und sonst, ist alles gut bei euch?“, fragt Steffi, als die drei auf traumhaften Sträßchen durch „Bella Italia“ schippern. Alles easy, prahlt Toni, die als Rocksängerin in ausverkauften Hallen auftritt. Lea hingegen protzt mit ihrem nagelneuen Mercedes-Coupé und der Beförderung in ihrem Beraterjob. Nur Steffi, die zweifache Mutter und gelangweilte Hausfrau, hat wenig, womit sie angeben an. Höchstens ihren Sohn, der bestimmt mal ein erfolgreicher Musiker werde, wo er doch schon in die Flötenschule gehe. Das Publikum allerdings weiß in diesem Moment längst, dass auch die beiden Karrierefrauen ihre Päckchen zu tragen haben, unglückliche Liebschaften hier, heimliche Affären da. Die Fassaden werden also bröckeln in diesem Roadmovie, das noch ein wenig krasser ausfällt als in dem Genre gemeinhin üblich.
Regisseurin Julia Becker, die auch Schauspielerin ist und Steffi spielt, pflastert die bunte Komödienstraße mit vielen tragischen Steinen. Humor und Ernst liegen so eng beieinander wie die die Leitpfosten am Wegesrand. Das führt dazu, dass sich die Route nicht in Witzen über Vibratoren oder Intimfrisuren verliert, sondern die Kurve kriegt zu realistischen Szenarien. Verpackt in eine Tragikomödie mit teils pechschwarzen Elementen, erzählt der Film von vier Frauen Ende 30, die man vielleicht auch in der Kneipe nebenan treffen kann. Hinter ihnen liegt die Freiheit der Jugend, als noch alles möglich schien. Vor ihnen bahnen sich die Schienen, auf denen sie festsitzen, nachdem einmal bestimmte Weichen gestellt wurden. Heirat oder Unabhängigkeit? Karriere oder Kinder? Treue oder Spontansex? Die Möglichkeiten haben sich verengt, jedes „Muskeltier“ rotiert um seinen eigenen Planeten. Und was passiert, wenn sich deren Bahnen wegen außerordentlicher Ereignisse wieder einmal kreuzen – das lotet das von Julia Becker geschriebene Drehbuch mit großer Genauigkeit aus.
Weiblicher Humor
Over & Out reiht sich ein in eine ganze Serie von Komödien, die von Frauen für Frauen geschrieben wurden und von denen ein paar kurz hintereinander in die Kinos kamen oder noch kommen, wie etwa Jagdsaison nach dem Drehbuch von Rosalie Thomass oder Wunderschön von Karoline Herfurth. Sie schlagen einen anderen Ton an als die typischen Mainstream-Komödien, sind nicht nur auf Gags um der Gags willen aus, sondern bringen eine weibliche Sicht ins Komödienfach. Dabei machen sie am Unterhaltungswert keinerlei Abstriche. Der realistische Hintergrund ist nicht mit einem aufklärerischen Zeigefinger zu verwechseln, sondern ergibt sich organisch aus den Lebenserfahrungen von Frauen auf dem Regiestuhl.
Freilich ist eine reine Situationskomödie à la Junggesellinnenabschied leichter zu inszenieren, denn da erwartet man keinen Realismus. Bei Over & Out schluckt man die arg konstruiert erscheinenden Wendungen und überhaupt das äußere Handlungskonstrukt weniger leicht. Überdies pflegt Regisseurin Julia Becker einen eigenwilligen Humor, mit dem sich vielleicht nicht jeder schon in den ersten fünf Minuten anfreundet. Aber die komplexen, fein gezeichneten Charaktere und die gute Laune des Films helfen über ein paar Holprigkeiten allemal hinweg.
OT: „Over & Out“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Julia Becker
Drehbuch: Julia Becker
Musik: Josef Bach, Arne Schumann
Kamera: Florian Mag
Besetzung: Jessica Schwarz, Petra Schmidt-Schaller, Julia Becker, Nora Tschirner, Denis Moschitto, Sascha Alexander Geršak, Sabine Vitua
Wer mehr über Over & Out erfahren möchte: Wir haben zum Kinostart der Tragikomödie ein Interview mit Julia Becker geführt, die bei dem Film Regie führte, das Drehbuch schrieb und eine der Hauptrollen übernahm.
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