Seit sich der erste Todestag ihres Mannes nähert, ist die Beziehung zwischen Amy Carr (Naomi Watts) und ihrem Sohn Noah (Colton Gobbo) noch angespannter als in den Monaten zuvor. Nachdem es ihr nicht gelungen ist, den Teenager aus dem Bett zu holen und zur Fahrt zur Highschool zu motivieren, gibt Amy schließlich auf und beginnt damit, durch die nahen Wälder zu joggen. Dabei entgehen Amy nicht die vielen Polizeiautos und Rettungsfahrzeuge, die in Richtung der Stadt unterwegs sind. Schließlich erhält sie eine dringende Nachricht auf ihrem Handy, dass es zu einem schlimmen Zwischenfall in der Stadt kam und die Anwohner geraten sind, sich in ihren Wohnungen aufzuhalten, um sich nicht Gefahr zu bringen. Während Amy ihr Bestes tut, um Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen, erfährt sie über eine Nachrichtenseite, dass es in der Schule ihres Sohnes zu einer Schießerei gekommen ist. Panisch versucht sie Noah wie auch die Polizei zu erreichen, um noch mehr Informationen zu erhalten, doch niemand kann ihr etwas Genaues sagen.
Ein Gegenmittel zum Lockdown
Seit seinem Film Hüter der Erinnerung – The Giver ist es still um den australischen Regisseur Phillip Noyce geworden, der anstatt auf Kinoprojekte sich in erster Linie auf Arbeiten für das australische und US-amerikanische Fernsehen konzentrierte. 2021, ausgerechnet während der Pandemie, drehte er gleich zwei Filme, Above Suspicion und The Desperate Hour, wobei er die Arbeit, wie er in Interviews erklärt, vor allem als „Gegenmittel zu der Depression des Lockdowns“ ansah. Zudem stellte die Geschichte zu The Desperate Hour eine besondere Herausforderung für ihn dar, da es sich bei dem Projekt um ein Ein-Personen-Stück handelt, was er so noch nie gemacht hat.
Ironischerweise ist ein Projekt wie The Desperate Hour von der Erzählweise her so etwas wie ein Spiegel des Lockdowns. In der jüngeren Vergangenheit ist dem Publikum eine solche Art der Narration bereits durch Werke wie Steven Knights No Turning Back oder Gustav Möllers The Guilty geläufig, die eine ähnliche Ausgangssituation bedienen wie es The Desperate Hour tut. In diesem Falle ist es eine Form der Isolation und Distanz, die für die Protagonistin und zugleich für den Zuschauer unerträglich wird und somit zu einem zentralen dramaturgischen Element. Nur über die wenigen Informationshappen in den Videos, die Amy sich ansieht, oder in den Telefonaten, die sie führt, während sie immer erschöpfter durch den Wald läuft, ergibt sich ein Bild der Ereignisse, welches nach wie vor bruchstückhaft ist und die Unruhe in ihr noch verstärkt. Noyce und Drehbuchautor Chris Sparling erschaffen eine albtraumhafte Situation, bei dem sich die Anspannung, die steigende Angst und Panik der Heldin sich auf den Zuschauer überträgt, was The Desperate Hour stellenweise sehr packend macht.
Wettlauf gegen die Zeit
In der einen Stunde, von der Noyce und Sparling erzählen, ist einiges gepackt, vielleicht sogar etwas zu viel. Bedenkt man die Flut an Anrufen und Informationen, die auf die Heldin einprasseln, während sie durch den Wald joggt, ist es schon eine ganze Menge und widerspricht dem realistischen Anspruch, den Regie und Drehbuch anscheinend verfolgen. Die Tatsache, dass The Desperate Hour überzeugt, hat sehr viel mit der darstellerischen Leistung Naomi Watts zu tun, die einmal mehr zeigt, warum sie eine der besten Schauspielerinnen ihrer Generation ist. In ihrem Gesicht spiegeln sich die Erschöpfung, die Angst und schließlich auch die Frustration wider, die Amy durchlebt, wobei die psychologische Herausforderung wahrscheinlich auf einer Ebene mit der körperlichen ist, bedenkt man, was Watts’ Figur durchmacht in ihrem Wettlauf gegen die Zeit.
OT: „The Desperate Hour“
Land: USA, Kanada
Jahr: 2021
Regie: Phillip Noyce
Drehbuch: Chris Sparling
Musik: Fil Eisler
Kamera: John Brawley
Besetzung: Naomi Watts, Colton Gobbo, Andrew Chown, Sierra Maltby, David Reale, Josh Bowman
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