Regisseurin Carolin Schmitz

Carolin Schmitz / Anke Engelke [Interview]

Dokumentarfilmerin Carolin Schmitz behandelt oft Themen, über die die Gesellschaft nicht so gerne spricht. Etwa über den Drang zur Selbstoptimierung mittels plastischer Chirurgie (Schönheit, 2011). Oder über die oft tabuisierte oder hinter Selbstlügen versteckte Alkoholsucht (Portraits deutscher Alkoholiker, 2010), die meist im Verborgenen bleibt. In ihrer neuen Arbeit Mutter, einem Zwitter aus Doku und Fiktion, geht es ebenfalls um das Sichtbare und das Unsichtbare. Genauer gesagt, um die realen Ambivalenzen des Mutterseins und das öffentliche Bild, das von Müttern eine idealisierte Perfektion erwartet. Acht Frauen kommen mit ihren teils intimen Bekenntnissen auf der Tonspur zu Wort. Sie äußern sich über unglaubliches Glück, aber auch über Zweifel, Überforderung und das Versagen ihrer Partner. Auf der Leinwand ist aber immer nur die Schauspielerin Anke Engelke zu sehen, die einen typischen Frauenalltag mit Saubermachen, Einkaufen oder Wäsche waschen vorführt und synchron die Lippen zu den Originalstimmen bewegt. Das tut sie so perfekt, dass man gar nicht merkt, dass sie nur die Lippen bewegt – eine überragende schauspielerische Leistung. Zum Filmstart am 29. September 2022 sprachen wir mit Carolin Schmitz und Anke Engelke über die beeindruckende Offenheit der Befragten, über die enorme schauspielerische Herausforderung und über die Überlastung der meisten Frauen, die noch immer von den Männern bei der Kindererziehung im Stich gelassen werden.

Frau Schmitz, wie ist die Idee für das innovative Konzept von dokumentarischen Originalstimmen, kombiniert mit den Lippenbewegungen einer Schauspielerin, entstanden?

Carolin Schmitz: Die Idee war nicht von Anfang in dieser Form da. Ich habe Interviews geführt und die auch gefilmt. Aber mir war von Anfang an klar, dass ich nur den Ton benutzen und die Originalstimmen auf jeden Fall behalten werde. Dann war die Frage: Wie kriegt man das ins Bild? Es gibt dabei keinen logischen Hergang dafür, dass ich genau bei dieser Lösung gelandet bin. Irgendwann kam mir beim Nachdenken die Idee einer fiktiven Figur, in der sich alle Stimmen treffen.

Frau Schmitz, wie haben Sie die Frauen gefunden? Sind die acht, die jetzt im Film sind, eine Auswahl aus einer größeren Gruppe?

Carolin Schmitz: Eine Auswahl aus neun. Ich habe Zeitungsanzeigen aufgegeben, überregional und in einem auflagenstarken Kölner Gratis-Blatt. Darauf haben sich Frauen gemeldet. Mit denen habe ich telefoniert. Da merkt man dann schon, ob jemand wirklich über seine persönlichen Erfahrungen sprechen möchte. Wenn ich am Telefon den Eindruck hatte, das könnte sich lohnen, habe ich mich mit ihnen getroffen. Dazu kamen zwei aus meinem Bekanntenkreis.

Wann kam dann die Idee dazu, dass Anke Engelke die fiktive Figur spielen sollte?

Carolin Schmitz: Das Projekt zu finanzieren, war schwierig. Es gab ein Drehbuch, aber es war nicht möglich, dafür Geld zu bekommen. Dann dachten wir, wir brauchen einen Star. Weil ich auf die Anke stehe, habe ich sie gefragt. Außerdem, wer soll so etwas denn sonst machen in Deutschland?

Sie leben beide in Köln. Hat das eine Rolle gespielt?

Anke Engelke: Es gibt eine Schnittmenge zwischen unseren jeweiligen Bekannten- und Freundeskreisen. Da wurde auch vermittelt.

Carolin Schmitz: Wenn nicht vermittelt worden wäre, hätte ich trotzdem gefragt.

Was war Ihre erste Reaktion auf die Anfrage?

Anke Engelke: Ich sage immer, dass ich sofort begeistert war. Aber Carolin sagt, dass das nicht stimmt. Sie habe mir bei unserem ersten Treffen erst erklären müssen, wie genau die Idee funktioniert. Ich hätte viele Fragen gehabt, was ja auch stimmt. Trotzdem behaupte ich, dass ich die Idee von Anfang an toll fand. Ganz sicher ist, dass ich meine Agentinnen ins Boot holen und denen erklären musste, wie das Konzept genau aussieht. Bis man das erklärt hat, vergehen auch ein paar Minuten. Es erschließt sich nicht sofort. Aber ich habe damals bestimmt sofort zugestimmt.

Was hat Sie letztlich bewogen, ja zu sagen?

Anke Engelke: Ich finde das Thema spannend und die schauspielerische Arbeitsanforderung ebenfalls extrem interessant. Für mich spielt beides eine Rolle, ich habe eine Art Check-Liste, wenn es eine Anfrage gibt, aber ich bin bestimmt nicht die einzige, die nach gewissen Kriterien vorgeht bei der Auswahl der Projekte. Mir ist das Thema wichtig, das Drehbuch, das Team, dann kommt lange nichts, dann kommt die für das Projekt nötige Zeit. Bei mir spielt auch der Ort eine Rolle, es sollte am besten in Köln sein oder ganz weit weg. Ich mag diese Zwischendinger nicht, wo man abends dann doch überlegt, ob man nicht noch den Zug nach Hause nehmen könnte.

Stichwort Herausforderung: Wie schwer war es, diese Originalinterviews mit allen ihren Pausen, Wiederholungen und Versprechern einzuüben, Frau Engelke?

Anke Engelke: Nicht zu vergessen: das Atmen und Schlucken. Das gibt den Rhythmus vor, sonst muss man an falscher Stelle Luft holen. Ich muss wissen, ob die Stimme während der Pause atmet oder nicht. Ob ich atmend in ein Wort gehe und wo meine Luft ist. Das ist eine wahnsinnig technische Angelegenheit.

Haben Sie die Frauen eigentlich auch persönlich kennengelernt?

Anke Engelke: Nein, ich kannte nur Ihre Stimmen. Es hätte die Möglichkeit gegeben, etwas über die Frauen zu erfahren. Kennenlernen war nie eine Option. Aber Carolin hat durchaus gefragt, ob ich noch mehr über die Biografien wissen wollte. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte auch keine Fotos sehen, weil ich mit all dem überfordert gewesen wäre. Ich fand es genug Arbeit, alle Stimmen auswendig zu lernen. Es hätte mich überlastet, wenn während des Lernens noch Filme in meinem Kopf abgelaufen wären. Ich wollte, dass der einzige Film, den ich habe, die Tonspur ist.

Wie lief das Lernen genau ab?

Anke Engelke: Es dauerte ein paar Wochen, bis ich wusste, wie ich die Stimmen lernen muss. Dann hatte ich drei Monate lang einen strikten Ablauf. Morgens bin ich gelaufen. Ich habe eine 80-Minuten-Strecke. Der Text ist 50 Minuten lang. Ich habe ihn jeden Tag auf dem Kopfhörer beim Laufen einmal ganz durchgehört, immer in der Reihenfolge, wie er später gedreht werden sollte, und dann manchmal zusätzlich in Fragmenten. Dadurch habe ich die Stimmen regelrecht verinnerlicht und in mich rein gesogen. Irgendwann spricht man mit, das ist wie mit Lieblingssongs. Ich finde es hochspannend, was das Gehirn alles kann. Darüber würde ich gern noch viel mehr erfahren. Darüber hinaus habe ich nachmittags die verschriftlichten Texte gelernt. Vier Stunden, dann Pause, und dann nochmal vier Stunden. Das habe ich auf drei Monate verteilt, weil ich zwischendurch auch für andere Produktionen arbeiten musste. Gestern bestätigte mir eine Freundin, dass ich während dieser drei Monate ein wenig sonderbar war.

War das eine Art Herzensprojekt für Sie?

Anke Engelke: Das ist ein schönes Wort und ich wünschte, ich könnte jetzt ja sagen. Aber das kann ich nicht, weil ich damit alles andere, was ich gemacht habe und noch machen werde, degradieren würde. Wir müssen ein anderes Wort finden. Es ist die größte Herausforderung, die ich bisher technisch zu leisten hatte. Ich musste auch mal Norwegisch sprechen in einer kleinen Rolle. Das kriegt man hin, Aber das hier ist technisch sehr viel  schwerer. Und das, obwohl ich aus dem Synchron-Fach komme und das schon als Kind gelernt habe. Im Rahmen meines Lehramtsstudiums – Englisch und Französisch – habe ich auch bei den Logopäd:innen reingeschaut, weil ich mich sehr für Sprechen interessiere. Phonologie und Phonetik habe ich geliebt. Aber das machte es nicht leichter. Die Herausforderung, um nochmal auf das Herzensprojekt zurückzukommen, war unbeschreiblich. Ich bin ein total ehrgeizloser Mensch. Aber das wollte ich unbedingt schaffen. Und weil es so schwer ist, so etwas zu finanzieren, wollte ich es auch für Carolin hinkriegen – und für das Thema, das ich wahnsinnig wichtig finde.

Mutter
Anke Engelke als Sprachrohr ungehörter Mütter in dem experimentellen Dokufilm „Mutter“ (© mindjazz pictures)

Kommen wir noch einmal auf den Inhalt zu sprechen. Da gibt es zum Teil sehr intime Bekenntnisse. Hat es lange gedauert, bis sich die Befragten derart geöffnet haben, Frau Schmitz?

Carolin Schmitz: Nein, damit gab es keine Probleme. Es war ja Teil der Auswahl, dass ich den Eindruck hatte, diese Frauen möchten etwas über ihre ambivalenten Gefühle erzählen. Ich bin alleine zu ihnen gegangen, ohne Team. Ich habe mich für sie interessiert und es ist meine Erfahrung, wenn man Leute respektiert und ihnen zuhören möchte, dann erzählen sie die erstaunlichsten Sachen und gehen sehr weit. Mich wundert das, aber es ist mir im Laufe meiner filmischen Arbeit schon oft passiert.

Anke Engelke: Das ist einfach die Begabung, die Carolin hat. Wenn sie sehr zugewandt und interessiert ist, dann sieht man das. Und wenn sie es nicht ist, merkt man es auch schnell.

Hat es auch etwas damit zu tun, dass die Frauen von vornherein wussten, sie würden nicht im Bild erscheinen?

Carolin Schmitz: Andernfalls hätte ich gar nicht alle bekommen. Und es ist klar, dass sie durch diese Entscheidung geschützt sind. Zwar wird man die jeweilige Person an ihrer Stimme wiedererkennen, wenn man sie wirklich kennt, aber der Öffentlichkeit werden sie nur durch ihre Stimme nicht bekannt werden.

Im Abspann sind aber sieben von acht mit vollem Namen genannt?

Carolin Schmitz: Ja, aber dabei sind sie gefragt worden. Das ist  abgesprochen und sie konnten völlig frei zustimmen oder ablehnen. Trotzdem kann man anhand der Namen im Abspann nicht rekonstruieren, wer was erzählt hat.

Anke Engelke: Jetzt kommt der Knall im All: Fünf der Frauen standen gestern bei der Premiere in Köln auf der Bühne. Ich habe die zum ersten Mal in meinem Leben gesehen und war ziemlich überwältigt. Das war eine Mischung aus Freude und Überwältigung. Ich kann das immer noch nicht in Worte fassen. So etwas ist mir selten passiert, dass ich mich so gefreut habe, jemandem zu begegnen. Ich hatte sie ja so sehr verinnerlicht und dann stehen sie da vor mir.

Carolin Schmitz: Die Frauen haben sich aber auch sehr über dich gefreut.

Anke Engelke: Die haben mir eine so große Dankbarkeit entgegengebracht. Was meinst du, Carolin, warum? Ich habe doch gar nichts gemacht.

Carolin Schmitz: Sie empfinden es als eine große Wertschätzung für ihre individuellen Geschichten, wenn sich eine berühmte Schauspielerin derer annimmt.

Der Film hat ja auch eine genderpolitische Funktion, an der wir Männer nicht ganz unschuldig sind. Man hört viel von Überlastung und Ermüdung. Was muss sich, Frau Schmitz, an der Geschlechterungerechtigkeit ändern, damit solche Berichte in 20 Jahren vielleicht nicht mehr zu hören sind?

Carolin Schmitz: Es muss Care-Arbeit im Allgemeinen endlich wertgeschätzt und anerkannt werden, dazu gehört auch die Erziehung von Kindern. Das ist ein richtiger Job und ich weiß gar nicht, wie sich das bei der Rente auswirkt, sicher nur minimal. Es müsste eine Wahlfreiheit geben für Männer wie auch für Frauen, ob sie diese Arbeit tun möchten, und das müsste anerkannt sein. Das ist das eine. Das andere sind Quoten. Wenn es zum Beispiel in der Filmförderung eine Quote gäbe und die Frauen denselben Zugang zum Geld hätten, dann würden viel mehr Frauen Filme machen und die Väter müssten in dieser Zeit die Kinder betreuen. Es gibt Regularien, auch in anderen Bereichen, die man verändern könnte.

Frau Engelke, wie sehen Sie das?

Anke Engelke: Ich schließe mich an. Und ich würde das Bild gern komplettieren durch den Aspekt der Graswurzelbewegung, dass sich nämlich Veränderung auch aus der Gesellschaft, also aus uns selber heraus, entwickeln muss. Wir Männer und Frauen müssen es hinkriegen, die Wertschätzung zu gewährleisten. Wir müssen es Männern leicht machen, die Dinge zu tun, die in erster Linie Mütter tun. Warum ist Kinderbetreuung stigmatisiert und gilt als Frauendomäne? Ich würde gern vorschlagen, dass wir mehr miteinander darüber sprechen. Es gibt de facto eine Schieflage beim Thema Kinderbetreuung. Die Pandemie und das Home-Office waren da ein interessantes Phänomen. Denn es waren die Mütter, die mehr Verantwortung übernommen haben und sich auch zeitlich messbar länger mit den Kindern beschäftigten. Es gibt ein paar tolle Gegenbeispiele von Männern, die ich kenne. Aber das sind verschwindend wenige Ausnahmen.

Frau Schmitz, welche Idee steht hinter dem visuellen Konzept? Man sieht oft weiße Flächen, alles ist aufgeräumt oder wird gerade aufgeräumt. Es sind wenig Spuren von Leben zu sehen, alles wirkt neutral und wenn man es negativ ausdrücken will, fast steril.

Carolin Schmitz: Ich würde es nicht so beschreiben.

Anke Engelke: Ich auch nicht.

Carolin Schmitz: Vielleicht entsteht der Eindruck wegen der Statik der Kamera. Wir wollten die Figur, die eine Schauspielerin ist, so darstellen, dass alles, was auf der Bühne passiert, bewegt ist. Und alles, was im Alltag stattfindet, sollte etwas Bühnenhaftes bekommen. Bis auf wenige Ausnahmen ist jedes Bild eine einzige Einstellung, ohne dass zwischengeschnitten wird. Da muss man sich sehr genau überlegen, wie man das kadriert, damit die Spannung nicht abfällt. Dadurch entsteht eine Stilisierung. Das war die Idee: Eine ganz leichte Überhöhung in den alltäglichen Situationen zu schaffen.

Mein Eindruck war, dass es die Identifikation erleichtert und die Figur zu einer Projektionsfläche für die eigenen Erfahrungen der Zuschauerinnen und Zuschauer macht.

Carolin Schmitz: Wenn das passiert, ist das natürlich toll. Es sollte auf jeden Fall nicht gemütlich werden.

Zur Person
Carolin Schmitz wurde 1967 in Wiesbaden geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung als Buchhändlerin. Von 1997 bis 2002 studierte sie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ihr dokumentarischer Kurzfilm Benidorm über den gleichnamigen spanischen Urlaubsort erhielt 2006 den Deutschen Kurzfilmpreis in Gold für Dokumentarfilme. 2003 zählte sie zu den Gründungsmitgliedern des Dokumentarfilm Filmfrauen Netzwerks „LaDOC“. Carolin Schmitz lebt und arbeitet in Köln.

Anke Engelke wurde 1965 im kanadischen Montreal geboren. Schon als Kind sammelte sie Erfahrungen als Radio- und TV-Moderatorin. Beim SWR arbeitete sie nach der Schule 12 Jahre als Moderatorin und Redakteurin. Bekannt wurde sie als Schauspielerin spätestens mit ihrer TV-Show Ladykracher. Zuletzt sah und erlebte man Anke Engelke in Sönke Wortmanns Eingeschlossene Gesellschaft, und in Lena Stahls Spielfilmdebüt Mein Sohn, als Filmmutter von Jonas Dassler oder beispielsweise in den Staffeln 1-3 von LOL-Last one Laughing (Amazon) oder in Unerschrocken (ARD Mediathek).



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