Regisseurin Aelrun Goette drehte drei Dokumentarfilme, bevor sie 2005 mit Unter dem Eis ins fiktive Fach wechselte. In den folgenden Jahren arbeitete sie fürs Fernsehen, unter anderem beim Tatort: Wofür es sich zu leben lohnt (2016), in dem Eva Matthes ihren Abschied als Ermittlerin Klara Blum nimmt, unterstützt von den ehemaligen Fassbinder-Stars Hanna Schygulla, Margit Carstensen und Irm Hermann. Ihr neuer Film hat dagegen wenig mit TV-Formaten zu tun, sondern zelebriert großes Kino. In einem Land, das es nicht mehr gibt erzählt von der angehenden Abiturientin Suzie, die in der DDR aus politischen Gründen von der Schule fliegt und zur Strafe in eine Fabrik geschickt wird. Aber Suzie hat Glück. Ein Modefotograf schießt ein Foto von ihr in der Straßenbahn und sie landet auf dem Cover der Sibylle, einer viel gelesenen DDR-Zeitschrift. Suzie schnuppert an einer bisher unbekannten Freiheit, im offiziellen Modebetrieb und noch mehr in der schillernden Underground-Szene. Zum Kinostart am 6. Oktober 2022 sprachen wir mit Aelrun Goette über Schablonen unserer Wahrnehmung der DDR, über Nischen in Diktaturen und ihren Wunsch, weitere cineastische Filme zu drehen.
Ihr Film ist autobiografisch inspiriert. Sie wurden selbst auf der Straße entdeckt und gefragt, ob Sie nicht als Mannequin arbeiten wollten. Wie lief das genau ab?
Es war üblich, dass die Frauen, die für die Zeitschrift Sibylle fotografiert wurden, aus dem Bekanntenkreis der Fotografen und Fotografinnen kamen oder auf der Straße entdeckt wurden. Ich bin damals über den Alexanderplatz gelaufen und wurde von einer sehr eleganten Dame angesprochen, der damaligen Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit vom Volkseigenen Handelsbetrieb Exquisit. Sie fragte mich zuerst, ob ich aus dem Osten oder dem Westen komme. Das hat mich ein bisschen geärgert, weil wir immer sehr viel Wert darauf gelegt haben, dass man uns nicht ansieht, dass wir aus dem Osten kommen. Ich antwortete schnippisch, dass sie das nichts anginge und bin weitergelaufen. Sie kam mir hinterher und sagte, ich soll mich doch mal beim VHB Exquisit vorstellen. Das fand ich vollkommen absurd, weil ich zu der Mode-Welt gar keinen Draht hatte.
Aber irgendwie gab es dann doch ein Vorstellungsgespräch, oder?
Kurze Zeit später wurde ich noch mal angesprochen, und zwar in der S-Bahn vom Fotografen Hans Praefke. Der fragte mich, ob er mich für die Sibylle fotografieren dürfe. Da dachte ich, vielleicht ist da ja doch irgendwas dran? Ich habe dann sowohl für die Sibylle wie für den VHB Exquisit als Mannequin gearbeitet. Das ist auch das Erlebnis meiner Hauptfigur, das sich an meine Erfahrung anlehnt.
Sie haben 14 Jahre auf diesen Film hingearbeitet. Kann man sagen, dass er eine Art Traumfilm geworden ist?
Ich finde den Begriff schwierig, weil er so etwas Überhöhtes hat. Ich würde eher sagen, dass der Film schon jetzt ein Meilenstein in meinem filmischen Schaffen ist. Ich habe irgendwann gemerkt, dass es eine Schablone gibt, die sich über den Blick auf den Osten gelegt hat. Durch diese Schablone sehen wir Täter, Opfer oder Zeitzeugen, aber zu wenig von der Vielfalt der Menschen. Es gibt den schönen Satz des Philosophen Søren Kierkegaard, dass wir unser Leben vorwärts leben müssen, es aber nur rückwärts verstehen können. Wenn wir uns verstehen wollen, müssen wir uns zuerst einmal kennen. Die DDR war nicht nur „einheitsgrau“, wir haben auch gelacht und im Alltag versucht, unser Bedürfnis nach Freiheit auszuleben. Auf diese Seite wollte ich einen Blick werfen, ohne die Diktatur auszublenden.
Man stellt sich die DDR meist als grau und trist vor. Die ersten Filme, die nach der Wiedervereinigung über die DDR gedreht wurden, haben dieses Bild weiter befördert. Bei Ihnen sieht das Land zumindest teilweise ganz anders aus: bunt, fröhlich, verrückt, lebendig. Wollten Sie einen Gegenpol zu den frühen Filmen über die DDR setzen?
Obwohl es das „Einheitsgrau“ gab, ist es Teil der Schablone. Wir dürfen nicht vergessen, dass es im Osten häufig Schwarz-Weiß-Fotografie gab und die Architektur ziemlich runtergekommen war. Das hat den Eindruck des Graus verstärkt. Ich erinnere mich aber auch an viel Buntheit, vor allem in der Kleidung. In den Anfangseinstellungen des Films zeigen wir privates DDR-Archivmaterial aus dieser Zeit. Da sieht man, wie bunt das Leben war. Und wie viele Autos auf den Straßen fuhren. Man denkt immer, die Straßen seien leer gewesen, weil Filme es so gezeigt haben. Das stimmt aber nicht. Die Verzerrung kommt von den Bildern, die wir uns von diesem Land machen. Die haben sich über die damalige Wirklichkeit gelegt und erscheinen uns inzwischen realer als die Wirklichkeit selber. Ist das nicht interessant?
Und auch schade.
Auch ich musste in meinen Erinnerungen die Schablone erst einmal wegräumen. Aus meiner Stasi-Akte habe ich zum Beispiel erfahren, dass die Genossen meine Wohnung durchsucht, dass sie Nachbarn und Freunde befragt haben, Überwachungsfotos gemacht, Post geöffnet haben und so weiter. Damals wusste ich das aber nicht. Um beim Drehbuch schreiben in diese Zeit wieder einzutauchen, musste ich das Wissen von heute wegschieben. Und da kam zum Beispiel die Frechheit gegenüber der Stasi wieder ans Licht, etwa wenn die Figur des Fotografen Coyote einen Stasimann fragt: Darf ich mal die Kamera auf euch draufhalten? So waren wir damals auch.
Welche Erklärung haben Sie dafür, dass sich in der Modewelt eine Nische relativer Freiheit entwickeln konnte?
Diktaturen sind immer auch Nischengesellschaften. Das gilt nicht nur für die DDR. In diesen Nischen ist eine Freiheit möglich, die es in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht gibt. Und Diktaturen sind immer voller Ambivalenzen. Sie sind nicht so schwarz-weiß, wie wir glauben. Es ging für Menschen, die in diesem Land etwas gestalten wollten, oft darum, einen Balanceakt hinzukriegen: zwischen einer gewissen Zusammenarbeit mit dem System und trotzdem dem Umsetzen ihrer eigenen, unabhängigen Visionen. Nehmen wir als Beispiel die Figur der Chefredakteurin der Sibylle, die eine Mischung aus verschiedenen realen Vorbildern darstellt. Einerseits beschäftigt sie heimlich einen Fotografen und Dissidenten, der Berufsverbot hat, und kämpft für ein Mädchen, das aus politischen Gründen nicht auf den Laufsteg darf. Andererseits arbeitet sie der Stasi zu, ohne selber IM, also informelle Mitarbeiterin, gewesen zu sein. Diese Ambivalenzen sind typisch für totalitäre Systeme. Mir ist wichtig, auch zu erzählen, wie Menschen versucht haben, irgendwie da durch zu kommen.
Mode war vielleicht auch nicht die einzige Nische.
Nein, es gab viele Nischen. Zum Beispiel das Theater oder jede andere Form von Kunst. Es gab Heiner Müller, der erfolgreich kritische Aufführungen am Deutschen Theater in Ost-Berlin durchsetzen konnte. Es gab diese Räume.
Einmal sagt die Chefredakteurin empört, wir sind hier nicht bei der Brigitte. Aus meiner Sicht ist die Brigitte unter den westlichen Frauenzeitschriften noch die fortschrittlichste, aber sie war der Chefredakteurin wohl viel zu brav und konventionell. Welches Frauenbild beförderte die Sibylle?
In den 1970er Jahren war Dorothea Melis Chefredakteurin bei der „Sibylle“. Sie hatte sich vorgenommen, ein neues, selbstbewusstes Frauenbild zu zeigen, indem sie Fotografinnen und Fotografen in die Zeitschrift holte, die keine Modefotografen waren, sondern Künstler, die sich mit Gesellschaftsfotografie oder Architektur beschäftigten. Sie haben mit ihren Modefotos einen Stil geprägt, der bis heute einzigartig ist. Man kann es eine Art Gesellschaftsfotografie nennen, die Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Werner Mahler und viele andere geschaffen haben. Manche der Fotos sind heute Ikonen und auch in unserem Film präsent. Jede Fotografin hatte damals ihre Mannequins, mit denen sie gerne fotografierte. Mit ihnen haben sie ihr persönliches Frauenbild kreiert. Das war aufrecht, stark, selbstbewusst oder sinnlich und geheimnisvoll. Es ging ihnen weniger darum, die Mode gut in Szene zu setzen, sondern eher darum, den eigenen Blick auf die Welt zu zeigen. Bedeutende Fotografen der renommierten westlichen Magnum-Agentur saßen bei den ostdeutschen Kollegen auf dem Sofa und diskutierten über Fotografie. Es gab diesen Austausch und dabei hat sich niemand an der Brigitte orientiert.
Ihre Figur Suzie taucht nun in diese Welt ein und erlebt etwas, was so etwas wie das Privileg der Jugend in allen Teilen des Globus ist, nämlich zu rebellieren und sich gegen das System zu stellen. Ist es der Anspruch des Films, auch universell zu sein?
Ich wollte einerseits faktisch nah an der Realität bleiben. So sind zum Beispiel die Mode und die Gegenstände genau recherchiert. Dabei kam mir zugute, dass die Mode aus dieser Zeit gerade wieder aktuell ist. Meine Töchter schleppen aus den Vintage-Läden Klamotten an, die ich damals auch getragen habe. Gleichzeitig wollte ich eine Geschichte erzählen, die bis ins Heute reicht, indem ich heutige Fragen stelle: Welchen Preis zahle ich für meine Träume? Wo hört Selbstverwirklichung auf und fängt Selbstverrat an? Wie wollen wir Frauen und Männer miteinander leben? Wo ist der Platz, an den ich gehöre? Und was ist eigentlich Freiheit? Das sind Fragen, die sich gerade die jungen Menschen heute wieder stellen.
https://youtu.be/on9Z8Qrk8bI
Der Film lebt nicht ausschließlich, aber doch zentral von der Hauptfigur Suzie. Die heute 22-jährige Marlene Burow spielt hier ihre erste Hauptrolle, was immer auch ein Wagnis für alle Beteiligten darstellt. Wie ist das Casting gelaufen?
Es haben sich viele hundert Mädchen beworben und wir haben schnell gemerkt, dass die meisten von ihnen Instagram- und Selfie-geübt sind, aber sich schwer tun, eine Unbefangenheit gegenüber der Kamera auszustrahlen. Marlene hat eine Natürlichkeit, gepaart mit großer Kraft. Ich habe ihr zugetraut, dass sie den Film tragen kann und auch am 35. Drehtag noch die Sensibilität hat, etwa eine Liebesszene zu spielen. Dabei war es besonders wichtig, dass wir zusammen mit der Castingdirektorin Anja Dihrberg ein Ensemble zusammengestellt haben, in dem alle Spieler herausragend sind. Sie haben Marlene wunderbar unterstützt.
Die Charaktere an der Seite von Suzie sind außerordentlich plastische und markante Figuren, angefangen von dem schillernden schwulen Visagisten über den Fotografen in Halbstarken-Manier bis hin zur resolut-mütterlichen Brigadeleiterin. Bei mir tauchte die Frage auf: War die DDR voll von solchen kernigen Typen?
(Lacht) Naja, wir reden über Kino. So viele schöne Menschen an einem Platz, die wunderbare Dinge sagen, findet man in keiner Wirklichkeit. Aber klar, es gab ausgesprochen attraktive Menschen in der DDR, nur nicht so geballt. Wenn ich vielleicht zu den Schauspielern einen Satz sagen darf. Sabin Tambrea, der den schwulen Visagisten Rudi spielt, legt sich die Rolle in einer sinnlichen Perfektion um die Schulter, dass sie etwas sehr Würdevolles und Verletzliches bekommt. Claudia Michelsen verkörpert die Chefredakteurin mit der Eleganz eines Gil-Sander-Models und wechselt von warmherziger Fürsorge in Sekundenschnelle in elitäre Kühle. Jördis Triebel als Brigadeleiterin scheint aus dem Boden der Arbeiterklasse gewachsen zu sein, mit großen Träumen, die sie nicht verwirklichen konnte und einer Chuzpe, mit der sie sich die Härte des Alltags vom Halse singt. Und David Schütter, der den Fotografen Coyote spielt, lässt in seiner Männlichkeit Marlon Brando wieder aufleben. Und so kann ich auch über alle Schauspieler und Schauspielerinnen nur mit großer Zuneigung sprechen.
Seine Besonderheit entfaltet der Filme auch durch Kamera Ausstattung und Kostüme.
Mit meinem DOP Benedict Neuenfels habe ich intensiv bei der visuellen Umsetzung zusammengearbeitet. Er ist ein Mann der großen Bilder und war mir inhaltlich ein wichtiger Partner. Darüber hinaus hat er mich sehr unterstützt, als der Dreh durch Corona ausgebremst wurde und wir neu ansetzen mussten. Meine Szenenbildnerin Silke Buhr ließ in einer Kombination aus künstlerischer Virtuosität und sachlicher Genauigkeit diese besonderen DDR-Welten wieder aufleben, so dass ich mich am Set manchmal in die damalige Zeit zurückgebeamt fühlte. Eine große Verantwortung lag auf Kostümbildnerin Regina Tiedeken, die mit besonderer Kompetenz und einem feinen Verständnis für die Figuren eine ebenso elegante Modewelt wie einen vielfältigen Alltag geschaffen hat.
Können Sie schon über künftige Projekte sprechen?
Ich arbeite an einem neuen Projekt, soviel kann ich verraten. Ich hoffe, dass ich mich mit In einem Land, das es nicht mehr gibt aus der Schublade herausgearbeitet habe, in die ich gesteckt wurde, und jetzt weiter an großen, cineastischen Projekten arbeiten kann.
Meinen Sie die Schublade, dass in ihren Filmen immer mindestens ein totes Kind vorkommen muss?
Ja, so muss dann das wohl sagen. Aber ich will mich nicht beschweren, denn ich habe spannende Filme gemacht. Aber irgendwann schien ich in dieser Zuordnung festzuhängen, dabei wollte ich mich weiterentwickeln und auch meine humorvolle, sinnliche und cineastische Leidenschaft einbringen. In einem Land… ist ein nächster Schritt und ich freue mich darauf, auf diesem Weg weiterzugehen.
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