Belleville war schon immer ein besonderer Stadtteil von Paris. Ursprünglich ein Vorort der französischen Hauptstadt, wurde er später geschluckt, behielt dabei seine Eigenheiten aber bei. Es ist ein Viertel, das von den Einwanderern geprägt wurde, von den vielfältigen Kulturen, die hier zusammenkommen. Und doch ist es ein Herz Frankreichs geblieben, so französisch dieses Land sein kann. Edith Piaf wurde hier geboren, auf den Stufen eines Hauses, eine Gedenktafel erinnert an die Ikone des Chansons. Und noch immer werden diese hier gesungen, voller Inbrunst, so als wäre die Zeit stehen geblieben. Als hätte es die vielen Veränderungen und Herausforderungen, welche die Welt zu einem Ort der rastlosen Dauerkrise gemacht haben, nie gegeben.
Ein Café als Nabel der Welt
Das ist zumindest der Eindruck, den man beim Anschauen von Belleville, belle et rebelle gewinnen kann. Regisseurin Daniela Abke hat den Dokumentarfilm diesem speziellen Viertel gewidmet, tut dies aber auf eigene Weise. Hier gibt es keinen historischen Abriss oder Experteninterviews, welche uns die Bedeutung des Ortes erklären. Stattdessen ist es ein Café, das für sie zum Startpunkt einer Zeitreise wird. „Le Vieux Belleville“ heißt es, „das alte Belleville“, und ist Treffpunkt der unterschiedlichsten Menschen. So lernen wir dabei den Besitzer kennen, eine Sängerin oder auch ein früherer Anarchist, der von Interpol gesucht wurde. Es ist die typische Mischung aus Kulturschaffenden bzw. -liebenden und linkem Aktivismus, die hier gelebt wird.
Wobei die Grenzen zwischen Leben und Erinnern fließend sind. Oft blicken die Protagonisten und Protagonistinnen zurück, erzählen von früher. Dies tun sie jedoch selten in Form reiner Interviews. Oftmals ist Abke nur dabei, wenn andere sich unterhalten oder musizieren. So als wäre sie einer der vielen Gäste, die noch immer ins Café kommen, hätte an einem der Tische Platz genommen und sich gerade einen kleinen Aperitif bestellt, um den anderen zu lauschen oder auch einfach die Atmosphäre zu genießen. Von dieser gibt es in Belleville, belle et rebelle jede Menge. Bemerkenswert ist dabei, wie harmonisch diese ist. Obwohl die Menschen sehr unterschiedlich sind, die dort ein und ausgehen, zwischendurch auch lebhaft über Themen wie Gerechtigkeit diskutiert werden, man hat hier das Gefühl einer Gemeinschaft.
Eine aus der Zeit gefallene Utopie
Das ist natürlich gerade in Zeiten, in denen Spaltung und Konfrontation an der Tagesordnung sind, eine Wohltat. Abke nimmt uns mit in ein kleines Utopia, das seltsam aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Dazu trägt auch die Schwarzweiß-Optik bei, betörend, kontrastreich, irgendwie magisch. An vielen Stellen kann man beim besten Willen nicht sagen, welches Jahr wir haben. Selbst das mit dem Jahrzehnt fällt schwer. Dass wir uns in der Gegenwart bewegen, merkt man allenfalls durch die starke Rückbezogenheit in den Gesprächen. In Belleville, belle et rebelle wird viel von früher erzählt, sei es von eigenen Erlebnissen oder den Orten, die sich gewandelt haben. Nostalgie mischt sich in die Unterhaltungen, eine Wehmut nach einfacheren Zeiten.
Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Offenheit von Riton la Manivelle, Bariton und Drehorgelspieler, der genau weiß, dass seinem Erfolg die Sehnsucht nach klaren Verhältnissen und Zugehörigkeit entspringt. Überhaupt sind es die starken Persönlichkeiten in dem Café, die den Beitrag vom Filmfest Hamburg 2021 so sehenswert machen. Es macht einfach Spaß, ihnen Gesellschaft zu leisten, ihren Gesprächen oder der Musik zu lauschen oder gemeinsam mit Kamerafrau Isabelle Casez (Alice Schwarzer) den Blick schweifen zu lassen. Man sollte sich von Belleville, belle et rebelle nur keine neuen Erkenntnisse erwarten, keine Visionen für ein zukünftiges Frankreich oder Europa. Die Dokumentation ist zwar mitten im Leben, dabei aber auf eigene Weise von diesem entrückt.
OT: „Belleville, belle et rebelle“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Daniela Abke
Drehbuch: Daniela Abke
Kamera: Isabelle Casez
Amazon (DVD „Belleville, belle et rebelle“)
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