Von ihrer Mutter verwiesen und im Heim ständig im Streit mit den anderen Jugendlichen beschließt die 15-jährige Noémi (Kelly Depeault), wegzulaufen und ihr Glück in Montreal zu versuchen. Nachdem sie bei Bekannten einer Freundin untergekommen und sich vor Polizei und Heimleitung versteckt halten kann, genießt sie zunächst ihre neu errungene Freiheit. Doch lange anhalten tut diese nicht, als sich Noémi ziemlich schnell in einer Welt voller Manipulation, Drogen und Prostitution wiederfindet.
Der Weg in die Prostitution
Noémi Says Yes ist alles andere als ein leichter Film. Gerade die harte und umfassende Darstellung von sexueller Gewalt bleibt unweigerlich im Gedächtnis. Und das nicht, weil es so explizit wäre, sondern, vielmehr weil die Wirkung des Ganzen auf die Hauptfigur im Mittelpunkt steht. Sowohl erzählerisch als auch inszenatorisch folgen wir Noémi den ganzen Film über. Sind bei den schönen Momenten dabei, können aber den vielen schrecklichen ebenso wenig entfliehen, wie sie. Da sorgt nicht nur für ein sehr intimes und immersives Filmerlebnis, es schafft ebenso Tiefe und Empathie für die Hauptfigur.
Und das ist wichtig, denn so schafft man es eine Beziehung mit der Hauptfigur aufzubauen, die über bloßes Mitleid und ein Missverständnis für ihr Handeln, ihre Werte und ihre Ziele hinausgeht. Wir verstehen die Figur und werden dadurch unweigerlich in denselben Strom aus schlechten Entscheidungen mit hinein gezogen wie sie. Noémi Says Yes positioniert seine Hauptfigur in eine Rolle als Opfer der Umstände, zeichnet sie aber nicht als unmündig naiv. Stattdessen sehen wir eine Figur, die in vielen Momenten schlicht so wirkt, als hätte sie die Hoffnung verloren, als sei sie es leid zu kämpfen, als sei sie sowieso von allen im Stich gelassen. Eine Figur, die sich, anstatt regelmäßig zusammenzubrechen, ihre Erlebnisse in sich hineinfrisst, teilweise fast schon gleichgültig reagiert und ihr nihilistisches Weltbild immer weiter füttert.
Besonders beachtenswert ist dabei ebenso die Darstellung von Manipulation. Diese setzt nämlich perfekt auf die sich offenbarenden Charaktereigenschaften Noémis auf. Vor allem das Spiel mit ihrer verbliebener Hoffnung ist wunderbar detailliert gezeichnet und ergibt sich direkt aus dem eben beschriebenen Weltbild. Es zeigt sich, wie schonungslos effizient leere Versprechen und Beschwichtigungen bei einer 15-Jährigen, die ihr Leben lang nur auf der Suche Vertrauen war, ist. Noémi Says Yes zeichnet ein erschreckendes Bild über den Weg aus dem Nichts in mehr Nichts.
Und damit ist er deutlich cleverer als viele ähnliche Filme. So schafft er es, eine Balance zwischen kitschigem Rührstück und überkalter Sozialstudie zu finden und damit die Schwächen beider zu minimieren. Gerade durch die intensive Auseinandersetzung mit der Hauptfigur wird es nämlich erst möglich, die Strukturen, die dahinterstehen, greifbar zu machen. Noémi Says Yes schafft es, mehr als die reine Funktionsweise von einem Szenario der Prostitution Minderjähriger zu zeigen. Er zeigt ebenso die Wirkung und Wirkungsweisen dieses Szenarios.
Fehlende Systemkritik
Dennoch ist auch diese Darstellung nicht perfekt. Denn es wird zwar das Szenario des Films sehr gut ausgearbeitet, darüber hinaus ist er aber sehr begrenzt. So ist Noémi als auf Umstände reagierende Figur toll geschrieben, genauer wird auf diese Umstände aber nicht eingegangen. Vor allem muss diese Kritik gegenüber der Thematisierung von Kinderheimen gelten. Diese ist nämlich praktisch nicht vorhanden. Neben einzelnen Szenen, die wohl Noémis Heimalltag kurz wiedergeben sollen, bleibt eine weitere Auseinandersetzung mit der Systematik Kinderheimen aus.
Das ist besonders schade, wenn man bedenkt, dass der Film Heimen quasi vorwirft, keine attraktive Option aus Sicht Kinder zu sein. Aber wieso ist das so? Und vor allem welche Probleme haben Heime, die dafür sorgen? Aus der Psychologisierung Noémis lassen sich Schlüsse ziehen, wie dass ein Heim auf zu autoritären Strukturen beruht. Auch die an ein Gefängnis erinnernde Gestaltung des Heims weist darauf hin. Letzten Endes ist das aber einfach zu wenig und fühlt sich zu unrund erzählt an, um dem Thema adäquat gerecht zu werden.
Das unrunde Erzählen ist allgemein ein Problem, das den Film nicht nur in dieser Hinsicht etwas schwächt. Es gibt vermehrt Szenen, die seltsame Dynamiken oder hölzernen Dialog besitzen. Das ist kein riesiges Problem, nimmt dem Plot aber ab und zu ein wenig Wind aus den Segeln. Oftmals funktionieren die stillen Szenen einfach besser, was an der bereits angesprochenen Inszenierung und der tollen Leistung von Hauptdarstellerin Kelly Depeault liegen.
Prostitution als konzeptionelles Problem
Ein weiteres, sehr präsentes Thema in Noémi Says Yes ist natürlich auch Prostitution an sich. Der Film kritisiert die Industrie, vor allem die halbprofessionelle, sehr stark. Frauen, die weder von ihren Kunden noch ihren „Zuhältern“ respektiert, sondern schlicht ausgenutzt werden, sind das gezeichnete Bild. Einen Diskurs zum Thema Legalisierung von Prostitution als Möglichkeit der Besserung eröffnet der Film nicht. Tatsächlich wirkt es so, als lehne er das Konzept Prostitution prinzipiell ab.
Präsentiert werden zumindest drei Gründe dafür, denen nichts entgegengesetzt wird. Zum einen ist das natürlich die Minderjährigkeit von Noémi bzw. die unmittelbare Volljährigkeit ihrer Freundin Léa. Der greift damit den Aspekt auf, dass in Kanada eine durchschnittliche Prostituierte zwischen 14 und 15 Jahren ist und auch die Sexarbeiterinnen in anderen Branchen meist ein sehr fragwürdig junges Alter haben. Außerdem wird das toxische Verhältnis zu Sex infrage gestellt, das vor allem von Gleichgültigkeit und Erduldungen geprägt ist. Der vermutlich größte Punkt ist aber die Objektifizierung und Sexualisierung von Mädchen und Frauen, die sich mit Prostitution gegenseitig verstärkt, wenn nicht sogar bedingt. So zeigt der Film mehrfach, mit welcher Selbstverständlichkeit es hingenommen wird, dass junge Frauen sich als willig und gefügig zeigen.
OT: „Noémi dit oui“
Land: Kanada
Jahr: 2022
Regie: Geneviève Albert
Drehbuch: Geneviève Albert
Kamera: Léna Mill-Reuillard
Musik: Frannie Holder
Besetzung: Kelly Depeault, Emi Chicoine, James-Edward Métayer, Maxime Gibeault, Myriam Debonville, Joanie Martel
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