Die 17-jährige Lea (Lily McInerny) verbringt die Sommerferien gelangweilt in ihrer Heimat, einer beliebigen US-amerikanischen Kleinstadt. Ihre Mutter arbeitet entweder oder ist mit einem ihrer unzähligen „Freunde“ beschäftigt und auch von ihrem eigenen Freundeskreis ist Lea mehr und mehr genervt. Wie passend also, dass sie dem charmanten Tom (Jonathan Tucker) begegnet und eine Romanze mit ihm beginnt. Das einzige Problem dabei, Tom ist 34 und scheint kein Problem mit Leas Alter zu haben. Kann so eine Beziehung funktionieren?
Flucht aus der Ödnis
Mit Palm Trees and Power Lines bietet Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Jamie Deck einen Film, der die Faszination jüngerer Frauen an älteren Männern erforscht. Essenziell dafür ist, wie der Titel des Films schon vermuten lässt, auch die Semantisierung des Handlungsortes. Irgendwo im Nirgendwo, als Teil der Mittelschicht, die sich weder Sorgen um ihre Existenz machen muss, noch Hoffnungen auf Luxus machen kann, sucht eine Teenagerin nach einer Flucht aus der Bedeutungslosigkeit. Deck schafft einen Ort, der Erinnerungen an Sean Bakers Red Rocket weckt und mehr als nur ein Handlungsort ist.
Ohne diese Blaupause einer US-Kleinstadt funktioniert die Handlung überhaupt nicht. Tristesse, Bedeutungslosigkeit, Ahnungslosigkeit bauen diese aber nicht auf, sondern sind auch eine scharfe Diagnose für den Wohnstil, der viele in den USA so stolz macht. Gut umgesetzt wird das auch in der Inszenierung. So sorgt ein fast ironisch wirkendes 2,39:1-Format dafür, dass man die Leere verstärkt wahrnimmt. Weniger die Freiheit, alles zu tun, als das Gefängnis, nichts tun zu können. Ohne einen Ort, in dem Teenager nichts anderes machen können, als rumzuhängen, entsteht auch nicht das Bedürfnis nach „Abenteuern“ dieser Art.
Doch natürlich sorgt ein solcher Ort noch nicht alleine dafür, sich mit einem doppelt so alten Mann einzulassen. Das weiß auch der Film und befasst sich daher eingängig mit seiner Protagonistin. Die Beziehung zu ihrer Mutter und ihrem Freundeskreis, aus denen sie nichts ziehen kann, sind ebenso verantwortlich dafür, wie Vaterprobleme, Geschlechtsidentifikation und grundsätzliche Teenage-Angst. All diese Aspekte werden großartig beobachtet und eingefangen. Zu verantworten haben das zum einen das fantastische Schauspiel von Hauptdarstellerin Lily McInerny, aber natürlich auch das Drehbuch, das Hauptfigur Lea wirklich sehr gelungen psychologisiert. Tom bietet ihr genau das, was sie will, weshalb das Handeln Leas fantastisch durchdacht ist.
Alles bösartige Manipulation?
Genauso entscheidend ist im Film natürlich aber auch das Handeln der Figur Tom. Durch die Vorbelastung des Altersunterschiedes wirkt sein Verhalten immer grenzwertig, allerdings ist er so unfassbar charmant und bietet mehr als nur Plattitüden, um Lea zu manipulieren. Er schafft es, durch gute Ratschläge, ein offenes Ohr, Lob und indem er ihr schlichtweg fehlende Aufmerksamkeit schenkt, sie wirklich glücklich zu machen. Er verhält sich ihr gegenüber oftmals wie einer gleichaltrigen gegenüber. Weshalb sich beim Schauen des Films neben der offensichtlichen Frage, ob er sie nur ausnutzen will, auch eine weitere Frage in den Vordergrund drängt: Was funktioniert an einer solchen Beziehung eigentlich nicht?
Und auch wenn für die meisten Menschen eine feindselige Haltung gegenüber einer solchen Beziehung selbstverständlich und alternativlos ist, kann es trotzdem sinnvoll sein, sich mit dieser Frage zu befassen. Denn insbesondere aus Palm Trees and Power Lines werden die strukturellen Probleme, die die Beziehung zwischen einer 17-jährigen High School Schülerin und einem 34-Jährigen mit sich bringt, ersichtlich. Und nur, wenn eben diese Strukturen ersichtlich sind, lässt sich adäquat darüber urteilen, warum eine solche Beziehung fragwürdig ist bzw. in welchen Ausnahmefällen eben nicht.
Vor allem der Aspekt Manipulation ist dabei wieder zu nennen, da der Film es schafft, dafür eine spannende Parallele zu ziehen. Denn es wird klar, dass es in der Funktionsweise keinen Unterschied macht, ob Tom aktiv und bösartig manipuliert oder einfach nur von seinen Gefühlen überrannt wird und sich seiner Verantwortung gegenüber Lea nicht mehr bewusst ist. Für Lea macht es absolut keinen Unterschied. Das Resultat mag ein entscheidend anderes sein, aber die Beziehung stellt sich in beiden Fälle gleich dar. Leider verzichtet der Film darauf, weiter mit dieser Ambivalenz zu spielen und löst die Frage nach Toms Intentionen auf. Eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage bzw. ein Diskurs darüber erübrigt sich entsprechend ab dem letzten Drittel.
Mehr als nur ein Einzelfall
Insgesamt emotionalisiert der Film mit voranschreitender Laufzeit immer weiter und zeigt die Funktionsweise der entstandenen emotionalen Abhängigkeit. Zwar spiegelt sich das teilweise sehr beeindruckend in einer immer intensiver werdenden Inszenierung wider, allerdings untergräbt der Film damit teilweise sein voriges dezentes Auftreten. Das geht sogar so weit, dass einige Szenen an der Unglaubwürdigkeit kratzen und auch die Alltäglichkeit und Generalisierbarkeit der Darstellung leidet. Anstatt auf ein strukturelles Problem hinzuweisen, fühlt sich Palm Trees and Power Lines zum Schluss mehr danach an, einen besonderen Einzelfall porträtieren zu wollen.
OT: „Palm Trees and Power Lines“
Land: USA
Jahr: 2022
Regie: Jamie Deck
Drehbuch: Jamie Deck, Audrey Findlay
Kamera: Chananun Chotrungroj
Besetzung: Lily McInerny, Jonathan Tucker, Gretchen Mol, Auden Thornton, Armani Jackson, Kenny Johnston
Sundance Film Festival 2022
Filmfest Hamburg 2022
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