Seit dem Zusammenbruch des Ökosystems ist das Leben auf der Erde nahezu unmöglich geworden. Wer konnte und über die nötigen Mittel verfügte, rettete sich in die sogenannten Zitadellen, in denen ein normales Leben weiterhin möglich ist. Der Rest durfte sehen, wo er bleibt. Zu diesem Rest gehört auch die junge Vesper (Raffiella Chapman), die sich in dem unwirtlichen Ödland durchschlägt und gleichzeitig ihren bettlägerigen Vater Darius (Richard Brake) versorgen muss. Kontakt zwischen diesen beiden Welten gibt es praktisch keinen, auch wenn die ständig an biologischen Experimenten arbeitende Vesper davon träumt, einmal dorthin zu langen. Als Camellia (Rosy McEwen) mit ihrem Raumschiff im nahegelegenen Wald abstürzt, scheint dieser Traum in Erfüllung zu gehen. Denn diese verspricht der Jugendlichen, sie zur Zitadelle zu bringen, wenn Vesper ihr dafür hilft, ihren Vater zu finden …
Zurück in die Zukunft
Zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass Kristina Buozyte mit Vanishing Waves einen ganz außergewöhnlichen Science-Fiction-Film vorlegte. Dabei waren es vor allem die surrealen Bilderwelten der litauischen Regisseurin und Drehbuchautorin, die in Erinnerung blieben. Die Geschichte um eine maschinelle Bewusstseinsverbindung hatte zwar interessante Ansätze, letztendlich aber nicht so wahnsinnig viel zu erzählen. Seither hieß es warten, wie es mit der vielversprechenden Filmemacherin weitergehen würde. Von einem Beitrag zu The ABCs of Death 2 einmal abgesehen herrschte aber Funkstille. Umso erfreulicher ist, dass sie sich mit Vesper Chronicles nun zurückmeldet und ihr Werk sogar den Weg auf die große Leinwand findet. Denn dorthin gehört ihr Film.
Dabei bleiben Buozyte und ihr Co-Regisseur bzw. Co-Autor Bruno Samper, der bei Vanishing Waves auch schon am Drehbuch beteiligt war, dem Science-Fiction-Genre treu. Statt einer klinisch-futuristischen Welt erschaffen die beiden jedoch eine sehr organische, die aus einer Mischung aus Natur und Nichts besteht. Vesper Chronicles erzählt wie so viele andere Vertreter dieses Genres davon, wie die Menschheit die Erde zerstört hat und die wenigen Überlebenden um die kläglichen Reste kämpfen müssen. Verbunden wird dies mit einer extremen Form der Klassenteilung, wie sie ebenfalls bei solchen Visionen gebräuchlich sind. Was bei Snowpiercer die vorderen Zugabteile waren, bei High-Rise die obersten Stockwerke oder bei Die Tribute von Panem das Publikum, das dem tödlichen Wettkampf zuschaute, das sind hier die Bewohner und Bewohnerinnen der Zitadelle.
Selbstfindung in einer wunderbar lebendigen Welt
Wie üblich erleben wir diese Zweiteilung aus Sicht eines Menschen, der zur unteren Klasse gehört. Hier ist es eben die titelgebende Vesper, der wir bei einem Kampf um ein menschwürdiges Leben Gesellschaft leisten. Im Gegensatz zu vielen anderen solcher Dystopien steht hier aber nicht der Kampf als solcher im Vordergrund. Große Actionszenen sollte man nicht erwarten. Stattdessen ist Vesper Chronicles mehr Coming-of-Age-Drama, bei dem es um die Entwicklung der jungen Heldin geht, die sich inmitten einer sterbenden Welt selbst finden und behaupten muss. Eng damit verbunden ist das Verhältnis zu ihrem Vater. Der ist zwar bettlägerig, leistet ihr bei ihren Streifzügen aber mithilfe eines kleinen fliegen Roboters Gesellschaft, der mit seinem Bewusstsein verbunden ist. An der Stelle sind die Parallelen zu Vanishing Waves deutlich.
Und auch in einer anderen Hinsicht haben die zwei Filme eine auffallende Gemeinsamkeit: Sie sehen wunderbar aus. Erneut brauchen Buozyte und Samper dafür gar nicht so viel Hilfe aus dem Computer. Ganz verzichten sie zwar nicht darauf. Doch es gelingt ihnen und Kameramann Feliksas Abrukauskas (Redirected – Ein fast perfekter Plan), im Gegensatz zu so vielen Science-Fiction-Blockbustern, auch mit echter Handarbeit eine Welt zu erschaffen, die gleichzeitig bekannt und fremd ist und in der man so fasziniert und staunend umherirrt, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn über längere Strecken nichts passiert. Zusammen mit einem stark spielenden Ensemble, zu dem auch ein gekonnt fies auftretender Eddie Marsan gehört, wird Vesper Chronicles so zu einem kleinen Geheimtipp, der mal bedrohlich, mal hoffnungsvoll schimmert – und in Zeiten extremer Gräben das Menschliche betont.
OT: „Vesper“
Land: Litauen, Frankreich, Belgien
Jahr: 2022
Regie: Kristina Buozyte, Bruno Samper
Drehbuch: Kristina Buozyte, Bruno Samper, Brian Clark
Musik: Dan Levy
Kamera: Feliksas Abrukauskas
Besetzung: Raffiella Chapman, Eddie Marsan, Rosy McEwen, Richard Brake, Melanie Gaydos, Edmund Dehn
Fantasia Film Festival 2022
SLASH 2022
Sitges 2022
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