Dass Dokumentationen über Kunst beziehungsweise Künstler nicht langweilig sein müssen, zeigte Sabine Herpich letztes Jahr mit Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist. Der Film, welcher eine Oscar-Nominierung verdient hätte, wies einen interessanten narrativen Twist auf, folgte im Großen und Ganze aber doch Genrekonventionen. Was bei fiktionalen Werken oft als negativer Kritikpunkt herangezogen wird, ist beim Dokumentarfilm allerdings fast schon ein Lob. In einem Biopic wie Notorious B.I.G. darf viel hinzuerfunden und umgedichtet werden, wer aber zu einer biographischen Doku greift, möchte doch ganz gerne die Wahrheit über die vorgestellte Person erfahren – oder überhaupt irgendetwas.
Regisseurin Helke Misselwitz wählte für Die Frau des Dichters eine etwas andere Herangehensweise. Informationen über die mittlerweile verstorbene Güler Yücel werden allenfalls en passant und eher zufällig geliefert. Es lässt sich nicht beurteilen, womit das zusammenhängt: Mit der Unwilligkeit Yücels, über sich oder ihren Ehemann zu reden, oder mit der Unwilligkeit von Misselwitz, genauer nachzuhaken. Ihr Ehemann, das war der als Kommunist verfolgte Dichter Can Yücel. Sonderlich viel mehr gibt es hier über ihn allerdings auch nicht zu erfahren. Anscheinend hat er Güler geliebt. Sein Grabstein wurde irgendwann in den Garten seiner Witwe verfrachtet, als Folge von Vandalismus.
Viele Personen, wenig Inhalt
Yücel sieht sich selbst als Ziege und als Göttin. Datça, ihre Wahlheimat, ist sowohl der Name des Ortes als auch der Name der türkischen Halbinsel, auf der er sich befindet. Der Sage nach war es der Ort der Göttinnen, hier haben die Frauen das Sagen. Ziegen beklettern die felsigsten Gebiete, um hoch hinaus zu kommen. Auch Yücel scheut sich vor keiner Herausforderung. Eingeführt wird sie, als sie eine Zwiebel aus einer mit Wasser gefüllten Glasvase herausnimmt, einen großen Stein hineinsteckt, und die Zwiebel so gut es geht zurücklegt. Das sei Kunst. Immerhin stellt sich schnell genug heraus, dass der Kokolores nicht stellvertretend für ihr Schaffen steht. Eigentlich malt sie. Die Bilder sind hübsch anzusehen. Es sind alltägliche Dinge und Ereignisse. Eine Hochzeit. Spielende Kinder. Tiere. Was sie nicht gesehen hat, kann sie nicht malen, meint sie.
Die Frau des Dichters, welcher seine Deutschlandpremiere bei der diesjährigen DOK Leipzig feierte, ist voller Frauen und Mädchen. Freilich erfahren wir nie, um wen es sich dabei handelt, wir können uns nur herleiten, dass sie eben alle in und auf Datça wohnen. „[Der] Blick [der Kamera] verweilt auf […] Frauen, die selbstbewusst ins Objektiv schauen und sprechen“ wird die Inhaltsleere des Films auf der Festivalseite von oben herab schöngeredet, als gäbe es irgendeine Doku, in welcher die Interviewten kaum ein Wort herausbrächten, oder als wären auf Datça nur primitive Hinterwäldler anzutreffen, die das alles ja ganz toll mit dieser Kamerer oder wie das heißt machen. Wie etwas von den Befragten vorgetragen wird, ist in einer Doku auch nicht ganz so wichtig wie das, was vorgetragen wird, und da gibt es hier einfach kaum etwas Gehaltvolles.
Die Frauen in Die Frau des Dichters und auf der Insel Datça haben das Sagen, haben aber nichts zu sagen. Das führt zu Schlussfolgerungen, die gewiss nicht in Misselwitz‘ Sinne sein können, geradezu ihr gesamtes bisheriges Schaffen konterkarieren würden. Auf der Metaebene ließe sich der Dokumentarfilm immerhin als treffliche Parabel über das zeitgenössische Hollywood interpretieren. Nicht einmal im Titel darf die Protagonistin eigenständig sein, obwohl uns eine interviewte Dorfbewohnerin darüber belehrt, dass Frauen auf eigenen Beinen stünden, schließlich seien sie stark und intelligent, während Männer lediglich stark wären. Die in die Abhängigkeit drängende Namenswahl ist nicht nachzuvollziehen, wie so wenig in dem Werk. Abgesehen von Yücel verweilen alle Beteiligten in der Anonymität. Verschiedene Szenen bleiben für sich, werden wahllos aneinandergereiht, wirken wie die filmische Antwort auf die von der Künstlerin hergestellten Faltheftchen mit ihren gemalten Bildern. Es ist kaum zu glauben, dass die Doku die 90-Minuten-Marke nur knapp überschreitet. Fast alles fühlt sich hier lang und langsam an. In dieser Hinsicht weist die Doku Ähnlichkeit mit Lobster Soup – Das entspannteste Café der Welt auf.
Die Andeutung einer Geschichte
Etwa in der Mitte wird Yücel für kurze Zeit etwas gesprächiger, dann wieder gegen Ende. Das Puzzle, das sich aus den Versatzstücken zusammensetzen lässt, zeigt eine Güler Yücel, die vermutlich sowohl privat als auch künstlerisch ein interessantes Leben geführt hat, welches eines filmischen Portraits würdig gewesen wäre. Es wird durchaus klar, wieso Misselwitz ihre Doku dieser Person gewidmet hat. Unklar bleibt neben zahllosen anderen Dingen, wieso die Widmung in dieser unzureichenden Weise stattfand.
Bei genauerer Überlegung ergibt sich jedoch eine Lesart, die es vielleicht erklären könnte – das ist jetzt allerdings hochspekulativ und als Idee auch nur im Gesamtkontext ihres Werkverzeichnisses zu verstehen: Es gibt den Hauch einer Möglichkeit, dass der Film wirklich als Metakommentar gedacht war, nur nicht als solcher, als der er sich präsentiert. Misselwitz könnte in ihrer Dokumentation über eine Frau beziehungsweise die Frauen ebenjene gezielt blass gelassen haben, um aufzuzeigen, dass sie trotz ihrer Leistungen immer noch in der Gesellschaft ignoriert werden. Das wäre formal ziemlich absurd, aber auch nicht das Verrückteste, was die heutige Filmlandschaft so zu bieten hat. Am Ergebnis ändern würde es wenig. Letzten Endes wäre der größte Unterschied nur die Beantwortung der Frage, ob die Doku bewusst viel falsch macht oder unbewusst – und was davon schlimmer wäre.
OT: „Die Frau des Dichters“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Helke Misselwitz
Drehbuch: Helke Misselwitz
Musik: Volkan Ergen
Kamera: Ferhat Yunus Topraklar, Yunus Roy Imer, Thomas Plenert
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