Ein Leben wie ein Roman: Marie-Louise Chatelaine kam in ein französisches Waisenhaus, weil ihre Eltern zu arm waren, um für sie zu sorgen. Als junge, hübsche Frau lernte sie die andere Seite der sozialen Spaltung kennen: Durch die Heirat mit einem wohlhabenden Unternehmer lernte sie reiten, Ski fahren und Tennis spielen. Das änderte sich zunächst auch nicht, als die jüdische Familie aus Nazi-Deutschland fliehen musste und über Amsterdam, Spanien und Portugal ins argentinische Buenos Aires kam. Das ganze 20. Jahrhundert spiegelt sich in dieser Lebensgeschichte, an der Regisseurin Jeanine Meerapfel selbst teilhat. Sie ist die Tochter von Marie-Louise, die viel zu früh mit 61 Jahren starb, nun wieder völlig verarmt. Schon einmal, nämlich in ihrem Spielfilmdebüt Malou (1980) hat sich die heute 79-jährige Jeanine Meerapfel mit dem Leben ihrer Mutter und deren Einfluss auf ihr eigenes Schicksal auseinandergesetzt. Doch bei der damaligen, eher emotionalen Betrachtung, soll es im filmischen Schaffen von Meerapfel nicht bleiben. Ihr dokumentarischer Essay füllt die Leerstellen, die in der autobiografischen Fiktion von Malou offenbleiben. Er ist sachlicher und deutungsoffener – und damit anschlussfähig an die Erfahrungen aller Frauen und Männer, die darüber nachdenken, wie und warum sie zu dem geworden sind, was sie heute sind.
Vom Ordnen der Erinnerung
Mit einem prächtigen Baum fängt es an. Majestätisch steht der Riese da. Hellgrüne Blätter bilden ein domartiges Dach. Dann wandert die Kamera den Stamm hinunter, fasziniert von den Teilungen des Stamms und den Verästelungen. Sie folgt den mächtigen Luftwurzeln, die sich in ungezählte, immer dünnere, fingerartige Gebilde verlaufen. Fast so, als könnten sie den ebenso üppigen Verflechtungen des Nachbarbaums die Hand reichen. Es ist ein Bild, das unkommentiert bleibt und für sich steht, aber doch typisch ist für die Machart des Films. Seine Bilder ordnen sich der biografischen Erzählung nicht dienend unter. Sie führen ein Eigenleben, indem sie Gedankenräume öffnen, in denen das Publikum dann herumspazieren kann wie in seiner eigenen Erinnerung. Denn um das Zurückbesinnen geht es und ist es fast immer gegangen im filmischen Werk von Jeanine Meerapfel, nicht nur in La Amiga – Die Freundin (1988), wo Liv Ullmann eine argentinische Mutter spielt, deren Sohn während der argentinischen Militärdiktatur verschwunden ist. Oder im ebenfalls biografisch inspirierten Der deutsche Freund, wo sich der Sohn einer deutschen Nazi Familie in Buenos Aires in die Tochter von Holocaust-Opfern verliebt.
Den Bildern unterlegt ist ein von Jeanine Meerapfel gesprochener Text, der mal sachlich, mal poetisch die Reise-Impressionen und die vielen Fotos und Super-8-Filme aus dem Familienarchiv begleitet. Es ist eine Spurensuche zu den eigenen Wurzeln und denen von Verwandten und Freunden. Spätestens jetzt erschließt sich der metaphorische Sinn des Eingangsbildes von den Bäumen, die – wie man später sieht – in Buenos Aires stehen. Die Reise soll die Erinnerungen ordnen. „Es ist, als wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt“, heißt es im Off-Kommentar.
Das Eintauchen in die Vergangenheit beginnt in Burgund, in Macon und Chalon-sur-Soane. Die Tochter besucht das Haus, in dem die Mutter im Alter von sechs Jahren an lebte, als sie vom Waisenhaus zu einer Tante zieht. Die heutige Besitzerin lässt das Filmteam hinein, für einen Moment verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, das Foto der Mutter wird auf der Treppe aufgestellt, so als kehrte Marie-Louise, genannt Malou, zurück an den Ort ihrer Kindheit. Dieses Verflechten der Zeitebenen wird sich wiederholen: Zuerst in Straßburg, wo die junge Frau in einem Herrenmodegeschäft arbeitet und Karl Meerapfel kennenlernt. Ebenso in Untergrombach, heute ein Ortsteil von Bruchsal, wohin Malou ihrem künftigen Ehemann folgt und wo die deutsch-jüdische Familie Meerapfel die bekannte Tabakfabrik „Meerapfel & Söhne AG“ betreibt. Dann reist der Film nach Amsterdam, wo man kurzzeitig Schutz vor den Nazis fand, und schließlich nach Argentinien, wo Jeanine als zweite Tochter zur Welt kommt und Malou irgendwann von ihrem Mann verlassen wird – ein Schock, von dem sie sich nicht mehr erholt und dem der soziale Abstieg folgt.
Schicksal vieler Frauen
Oberflächlich betrachtet, könnte man den leisen, in meditativen Einstellungen gedrehten Film als Art erweitertes Familienalbum plus Jahrhundertbetrachtung lesen, eine Reflexion über Migration, Rassismus, Intoleranz, das Leiden an Diktaturen und wie das Leben der Mutter das eigene Leben beeinflusst. Aber es ist kein Zufall, dass der Titel nicht Meine Mutter lautet. Eine Frau eröffnet einen Resonanzraum über das Leben fast aller Menschen weiblichen Geschlechts, die sich auf die eine oder andere Weise von einem Mann abhängig machen oder abhängig fühlen. Die essayhafte Dokumentation spürt universell verständlichen Lebenswegen nach, ihren Wurzeln und falschen Abzweigungen sowie den darauf folgenden neuen Verästelungen, die im ungünstigen Fall auf Holzwege führen und von da in Sackgassen.
Aber der Film tut dies nicht belehrend, nicht einmal explizit, sondern so, dass nur die eigenen Schlussfolgerungen des Publikums dahin führen, ohne dass die anderen Äste möglicher Interpretationen gekappt würden. „Der Skandal, das Draufhauen, das Trommeln ist nicht unsere Sache“, hat Jeanine Meerapfel einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt, in ihrer Eigenschaft als Präsidentin der Akademie der Künste. In ihrem jüngsten Film verlangt die Meisterschaft der leisen Töne ein waches, eigenständiges, zum Selbstdenken bereites Publikum. Es wird das Laute von allein entdecken: die schreienden Ungerechtigkeiten, der nicht auszurottende Antisemitismus und die Brutalität der Männerherrschaft.
OT: „Eine Frau“
Land: Deutschland, Argentinien
Jahr: 2021
Regie: Jeanine Meerapfel
Drehbuch: Jeanine Meerapfel
Musik: Floros Floridis
Kamera: Johann Feindt
Wer mehr über Eine Frau erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, ein Interview mit Regisseurin Jeanine Meerapfel zu führen und mit ihr über ihren Film zu sprechen.
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)