In dem Gedicht „Unser Motorrad“ von 1969 heißt es an einer Stelle „zeichen der nacht&des roten motorrads blutender muskel der tropfend unser abend fleischige stengel verwuchert auch er zeichen von finsterkeit“. Die Dichterin ist die damals 23-jährige Elfriede Jelinek, die zu der Zeit begann, sich einen Ruf aufzubauen als vielversprechendes, neues Talent unter den Wiener Autoren, durchaus mit Aspirationen weit über die Grenzen Österreichs hinaus, obwohl die Schriftstellerei vielmehr ein Ausweg aus einem Elternhaus war, welches die junge Frau bisweilen erdrückte mit Pflichten und Erwartungen. Sprachlich wuchtig und überladen, bisweilen von Spuren der Beat-Dichtung der 50er Jahre durchzogen, passte eine solche ästhetische wie auch persönliche Rebellion in das ohnehin schon erhitzte soziale Klima der 60er Jahre, wobei Jelinek neben dem Aufbegehren gegen Strukturen und Positionen auch auf der Suche war nach neuen Formen für ihre Kunst, wie das eingangs erwähnten Zitat belegt. So steht die Autorin in Claudia Müllers Dokumentarfilm Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen folglich als eine Künstlerin, die immer auf der Suche nach diesen Formen ist, sich neue Themen und Figuren erschließt und dabei nicht selten auf Gegenwehr stößt.
In 96 Minuten wird deswegen nicht nur das Leben der bekannten Autorin, die 2003 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde, rekapituliert, sondern eben auch jene Suche nach der Sprache und welche Rolle diese im Leben Jelineks einnimmt. Das für eine solche Dokumentation übliche Material, bestehend aus zahlreichen Interviewmitschnitten, Fotos sowie Auszüge aus Lesungen, arrangiert Müller dabei in einem Stil, welcher dem Jelineks wohl nahezukommen versucht und teils Zeitsprünge macht, in deren Zusammenhang sich entsprechende Rückbezüge von Gegenwart und Vergangenheit der Autorin herstellen lassen. Bisweilen ist das etwas anstrengend, doch einen gewissen Reiz kann man der Methode ebenso nicht absprechen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass Jelinek selbst alles andere als bequem oder regelkonform in ihrer Kunst wie auch ihren Leben ist.
In die Sprache gerettet
Gleich zu Anfang sei gesagt, dass jene, die mit Jelinek als Person oder mit ihren Werken nichts anzufangen wissen, wohl keinesfalls bekehrt werden von Die Sprache von der Leine lassen. Ganz im Sinne der immer wieder den Konflikt suchenden Autorin selbst, wird man mehr als einmal Reibungspunkte in Inhalt wie auch Form finden, welcher sich, wie schon angemerkt, auf der Werk der Schriftstellerin zurückzuführen sein könnte. Wer sich einen Blick traut, wird ebenso die anderen Facetten dieser Person kennenlernen, angefangen bei ihrem problematischen Elternhaus sowie der Entwicklung ihrer Haltung zu vielen Themen, die sich mal sehr ätzend und mal sehr pessimistisch und sarkastisch in ihren Äußerungen wie auch den Texten wiederfindet. Diese werden von bekannten Darstellern und Darstellerinnen wie Sophie Rois oder Sandra Hüller eingelesen, was die Kraft und die Provokation des Gesagten in den Vordergrund rückt und Jelineks Positionen in die Gegenwart des Zuschauers bringen, besonders wenn es um Themen wie Religion, Politik oder eben das Ich geht, welches unter den Belastungen seiner Umwelt zusammenzubrechen droht.
OT: „Elfriede Jelinek: Die Sprache von der Leine lassen“
Land: Deutschland, Österreich
Jahr: 2022
Regie: Claudia Müller
Musik: Eva Janitsch
Kamera: Christine A. Maier
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Deutscher Filmpreis | 2023 | Bester Dokumentarfilm | Sieg | |
Bester Schnitt | Mechthild Barth | Nominiert |
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