Hans-Christian Schmid ist ein deutscher Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Nach seinem Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film München machte er 1995 den Spielfilm Nach Fünf im Urwald mit Franka Potente in der Hauptrolle und erlangte mit diesem große Bekanntheit. In der Folge drehte er viele sehr unterschiedliche Projekte, von denen nicht wenige einen Aspekt deutscher Geschichte unter die Lupe nehmen und in denen sich erzählerisch wie auch ästhetisch Spiel- sowie Dokumentarfilm miteinander verbinden. Darunter sind Projekte wie 23 – Nichts ist so wie es scheint, Crazy, Lichter, Requiem, Sturm oder Was bleibt. Darüber hinaus führte er bei der Mini-Serie Das Verschwinden mit Julia Jentsch Regie.
Für seine Arbeit wurde Schmid bereits mehrere Male ausgezeichnet. Allein für seinen Film Lichter wurde er mit dem FIPRESCI Preis der Berlinale, dem Deutschen Filmpreis in Silber, dem Bayerischen Filmpreis, dem Preis der deutschen Filmkritik, dem Deutschen Kritikerpreis sowie dem Findlingspreis des Verbands für Filmkommunikation geehrt.
In seinem neuen Film Wir sind dann wohl die Angehörigen, einer Verfilmung des gleichnamigen Sachbuches von Johann Scheerer erzählt er von der Entführung Jan-Philipp Remtsma, wobei er sich auf die Perspektive der Familie konzentriert. Anlässlich des bevorstehenden Kinostarts des Film am 3. November 2022 erzählt Hans-Christian Schmid im Interview über die Dreharbeiten, den ästhetischen Ansatz des Filmes sowie die Normalität inmitten einer Entführung.
Was hat Sie an dem Buch Johann Scheerers und der Geschichte der Entführung Jan Philipp Reemtsma interessiert?
Michael Gutmann, der mit am Drehbuch schrieb, und mich interessierte an dem Buch Johann Scheerers in erster Linie die Familiengeschichte. Es handelt von einer Situation, in der er und seine Mutter agieren müssen und mit der sie letztlich komplett überfordert sind. Natürlich gibt es am Fall Reemtsma auch Krimi-Aspekte, aber die haben Michael und mich weniger interessiert. Wir haben versucht, diese Geschichte aus unserer Sicht als Familienväter zu sehen und uns gefragt, wie wir uns in einer solchen Situation verhalten hätten. In der Adaption des Buches haben wir Johanns Perspektive auf das Geschehen übernommen, gleichzeitig aber die Geschichte um die Sichtweise seiner Mutter erweitert.
In der Rezeption des Buches stößt man immer wieder auf den Begriff des Entwicklungsromans. Inwiefern spielte dies für Sie als Drehbuchautor und Regisseur eine Rolle?
Nach einem Streit mit seinem Vater und dessen Entführung muss Johann schnell erwachsen werden, das kann man so sehen. Später muss er zudem seine Mutter unterstützen, als sie ihren Zusammenbruch erleidet, was diese Sichtweise unterstützt, denn zu Beginn der Geschichte wäre dies für ihn in diesem Maße sicherlich nicht möglich gewesen. Gleichzeitig aber stellt der Entwicklungsaspekt nur einen von vielen Gesichtspunkten innerhalb dieser Geschichte für mich dar. Ich wollte mich nicht so sehr darauf fokussieren, weil ich im Film noch mehr als im Buch das Gefühl hatte, dass Johanns Mutter die Hauptrolle übernimmt. Sie ist in Prozesse und Entscheidungen involviert, die einen großen Einfluss auf das Geschehen haben. Im Gegensatz zu ihrem Sohn. Johann ist für mich eher wie ein Beobachter, der nur leise kommentiert, wie es ihm geht, und nur selten nach außen dringen lässt, was in ihm vorgeht.
Was war denn der ästhetische Ansatz zu dieser Geschichte?
Wir haben uns lange überlegt, wie wir mit dem Haus umgehen würden, in dem ein Großteil des Filmes spielt, insbesondere mit dem Esszimmer, in dem viele Szenen spielen. Das sind natürlich für einen Kinofilm wenig ansprechende Motive, sodass wir uns in der Herangehensweise an diese Bilder etwas überlegen mussten. So wurden beispielsweise Bildachsen geplant, die es uns ermöglichen, Johann am Esstisch zu zeigen, der zwar an der Mahlzeit teilnimmt, aber abgesondert zu sein scheint von den anderen Figuren, während um ihn herum gerade andere Prozesse und Gespräche ablaufen. Wir wollten so viel von diesem Haus als Bildmotiv nutzen wie nur möglich, sodass es fast wie ein eigenständiger Charakter in Wir sind dann wohl die Angehörigen wirkt.
Die zweite Frage, die wir uns stellten, war, ob wir mit unseren Figuren das Haus verlassen wollen oder ob es nicht eine dramaturgische Stärke sei, sich nur innerhalb dieses Raumes zu bewegen. Letztlich entschieden wir uns, auch nach draußen zu gehen, weil wir zeigen wollten, wie zum Beispiel eine Lösegeldübergabe stattfindet oder eben schiefläuft. Im Buch ist das etwas anders, denn dort wird beschrieben, dass Johann eine halbe Valiumtablette bekommt und dieses Ereignis gänzlich verschläft. Für den Film wollten wir das anders lösen.
Haben sie eine Lieblingsszene oder ein Lieblingsbild in Wir sind dann wohl die Angehörigen?
Bei der Uraufführung im Rahmen des Filmfests Hamburg habe ich gemerkt, dass bereits eine der ersten Szenen, nämlich die, in der Jan Philipp Reemtsma mit seinem Sohn Latein lernt, für das Publikum etwas Besonderes ist. Die leise Komik und der Humor dieser Interaktion von Vater und Sohn hat den Zuschauern sehr gefallen. Ich persönlich mag sehr eine der späteren Szenen. Es handelt sich dabei um eine Montagesequenz, in der ein Brief des Entführten vorgelesen wird. Man sieht, wie seine Frau damit umgeht und wie sie sich im Haus fertigmacht für eine Lösegeldübergabe. An dieser Stelle finde ich den Film sehr bei sich und sehr dicht erzählt. Vom Schauspielerischen her finde ich interessant, wie Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer den Zusammenbruch dieser Frau spielt, und wie Claude Heinrich sie in der Rolle als ihr Sohn tröstet.
Interessant fand ich die Szenen, in der die Figuren eine Normalität herzustellen versuchen, die es aber aufgrund der Situation eigentlich nicht mehr so gibt. Das ist beispielsweise die Szene, in der sie sich gemeinsam die Harald Schmidt Show ansehen.
Wir haben uns immer auf solche Details zu konzentriert und weniger auf die Thriller-Aspekte der Geschichte. Das sind auch recherchierte Kleinigkeiten, die eine interessante Diskrepanz ergeben, wenn dann während des Interviews, das Schmidt mit Kylie Minogue führt, auf einmal das Telefon klingelt und man direkt wieder in einer anderen Wirklichkeit ist. Das ist in meinen Augen auch ein wichtiger Aspekt des Buches. Johann Scheerer beschreibt darin Abende während der Entführung, in denen im Haus auch gelacht wurde, was wie eine Befreiung von der ständigen Anspannung wirkt. Es sind Versuche, eine Normalität aufrechtzuerhalten. Auch zum Selbstschutz.
Können sie was zu der Zusammenarbeit mit Claude Albert Heinrich sagen?
Ich will seine schauspielerische Leistung keinesfalls schmälern, aber ich denke, dass Claude schon im Vorfeld sehr viel für diese Rolle mitbrachte. Schon beim Vorsprechen hatte ich das Gefühl, dass Claude gar nicht so extrovertiert ist wie andere Darsteller, sondern eher ein Beobachter ist, der sich erst einmal ein Urteil bilden will. Nach der ersten Lektüre von Johann Scheerers Buch deckte sich dies mit meinem Eindruck des jungen Johann, der sich auch eher zurückhält und zusieht. Vielleicht liegt hier auch der Schlüssel für die Zusammenarbeit mit Claude, denn ich habe ihn die Szenen so spielen lassen, wie er sie empfand, und habe ihn meist nicht gebeten, allzu viel selbst emotional herzustellen. In seiner Mimik und Gestik zeichnen sich die Emotionen seiner Figur dennoch deutlich ab, das ist einfach sein schauspielerisches Talent.
Inwiefern hat man als Regisseur und Autor eine Verantwortung gegenüber den Betroffenen, wenn man sich mit einem wahren Fall auseinandersetzt?
Ich denke, man hat eine große Verantwortung. Nur weil wir die Rechte an Johanns Buch erworben hatten, war uns klar, dass wir nicht das Recht hatten, die Menschen, die in der Geschichte eine Rolle spielen, so darzustellen, wie uns das als Autoren gerade recht war, sondern wir ihr Einverständnis brauchten. Wir haben die Beteiligten also eingebunden in die Entwicklung des Projekts und haben über die Gespräche mit ihnen noch Einzelheiten erfahren, die wir so noch gar nicht wussten. Wir haben versucht, ihnen und ihren Geschichten gerecht zu werden, auch wenn der Film naturgemäß mit Mitteln wie der Zuspitzung und der Verdichtung arbeitet.
Im Prozess des Schreibens stellte dieser Vorgang eine große Herausforderung dar. Auf der einen Seite will man einen spannenden Kinofilm schreiben, doch man will ebenso den Personen gerecht werden, die sich in der Geschichte wiederfinden und gleichzeitig den Sprachduktus der Vorlage nicht unter den Teppich kehren.
Empfinden Sie die Perspektive oder vielmehr die Rezeption über den Fall Reemtsma, insbesondere in den Medien, als eindimensional?
Das würde ich nicht so pauschal sagen. Der Fall wurde in unterschiedlichen Medien behandelt und besprochen, doch es hatte sich etwas in der deutschen Medienwelt nach dem Fall Gladbeck getan. So hat zum Beispiel das Stillhalteabkommen der Behörden mit den Medien sehr gut funktioniert und es drang nichts nach außen während der Entführung Reemtsmas. Wenn es um die Darstellung einer Person wie Jan Philipp Reemtsma geht, als Entführungsopfer oder als Zigarettenerbe, dann kann man oft eine Eindimensionalität in der Berichterstattung beobachten, und die finde ich sehr problematisch. Da würde ich mir eine differenzierte Wahrnehmung wünschen, wie es sie in den Artikeln nach der Entführung zum Teil auch gab. Reemtsma hat ja selbst versucht, das zu steuern, indem er und seine Frau kurz nach der Entführung, während eines Aufenthaltes in New York, der Süddeutschen Zeitung ein Interview gaben und sich danach nicht mehr äußerten.
Wie sehen Sie die Situation des deutschen Kinos derzeit?
Aus verschiedenen Gründen bin ich in den letzten Jahren nicht so oft dazu gekommen, ins Kino zu gehen und mir aktuelle deutsche Produktionen anzusehen. Von daher weiß ich nicht, ob ich mir ein Urteil über den deutschen Film erlauben kann. Was mir allerdings Sorge bereitet, sind die schwindenden Zuschauerzahlen für Kinoproduktionen und die Situation der Kinos, besonders der Arthouse-Kinos, was bereits vor der Pandemie begann und durch diese noch verstärkt wurde. Ich hoffe, dass diese Zuschauer wieder zurückkommen werden und sie nicht alle an die Streamingdienste verloren sind.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.
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