Im Jahr 1961 brach eine Gruppe von Höhlenforschern aus dem Norden Italiens in eine abgelegene Gegend im Süden des Landes auf. Ihr Ziel: Eine Höhle oder eher ein Abgrund von geringem Durchmesser, der tief hinunter in die Erde reicht. Die Mission endete mit einer kleinen Sensation, aber die Forscher machten kein Aufhebens daraus, wandten sich nicht an die Medien, avancierten nicht zu Stars der Öffentlichkeit. Und das, obwohl sie auf den dritttiefsten damals bekannten Abgrund der Erde stießen, fast 700 Meter tief, den tiefsten in Italien. Filmemacher Michelangelo Frammartino hörte vom „Abisso del Bifurto“ erstmals 2007, als er in der kalabrischen Landschaft seinen Film Vier Leben (2010) drehte. Der Abstieg in den dunklen Schlund ließ ihn seitdem nicht mehr los und er beschloss, in einer dokumentarischen Spielhandlung die Expedition von 1961 nachzustellen: mit zwölf jungen Höhlenforschern von heute (Paolo Cossi, Jacopo Elia und andere), die er mit den bescheidenen technischen Mitteln von damals ausstattete.
Stille Entschleunigung
Man muss es vorausschicken, auch als Warnung an alle, die einen klassischen Abenteuerfilm oder wenigstens eine Erkundung beeindruckender Mythen wie in Werner Herzogs Die Höhle der vergessenen Träume (2010) erwarten: Dies ist keine klassische Erzählung, sondern eher eine entschleunigte Meditation, eine visuelle Beschwörung, eine Verbeugung vor den Geheimnissen auf und unter der Erde. Erst nach 30 Minuten steigen die Forscher die ersten Meter in den Abgrund. Zuvor sieht man das nahe Dorf, ein paar Hirten und die Anreise der wagemutigen jungen Männer, die sich mit einfachsten Umständen begnügen. Erst schlafen sie in der Sakristei der Dorfkirche, dann schlagen sie direkt bei der Forschungsstätte, auf einer almartigen Wiese neben dem unscheinbaren, fast zugewachsenen Erdloch ein paar Zelte auf.
Wie soll man einen Film beschreiben, in dem fast nie gesprochen wird und der den Forschern keine Gesichter gibt, sondern sie meist in weiten Totalen aus der Ferne und dann in der Höhle auch aus relativer Distanz zeigt? Der kaum etwas ahnen lässt von der Mühsal, den Ängsten und Entbehrungen in stunden- und tagelanger Dunkelheit? Der nie einen Konflikt andeutet und alles vermissen lässt, was man gemeinhin von einer visuellen Erzählung erwartet? Nur über die Bilder und die Montage lässt sich annäherungsweise versuchen, zu so etwas wie einem inhaltlichen Anliegen zu gelangen. Denn nicht zu übersehen ist, dass die atemberaubende Landschaft des Nationalparks Pollino – ein Massiv an der Grenze zwischen den Regionen Basilikata und Kalabrien – sowie deren Menschen mindestens den gleichen Stellenwert einnehmen wie die Höhlenmission. So gehören zum Beispiel die einzigen Großaufnahmen einem alten Hirten und seinem ledergegerbten Gesicht. Jeden Tag sitzt er am selben Abhang neben einem mächtigen Baum und schaut hinunter auf das Treiben der Fremden rund um den Schlund. Er kommentiert es nicht und scheint sich auch nicht darum zu kümmern, was da vorgeht. Er sitzt einfach und schaut – eine Haltung, zu der der Film auch das Publikum einlädt.
Malerische Tableaus
Und so sieht man die Wolken über die Berge ziehen, sieht die Kühe grasen und den Esel das Brennholz schleppen in einem archaischen Leben der Hirten, die einfach nur dem Kreislauf der Natur folgen und nie auf die Idee kämen, etwas als Objekt zu vermessen und zu kartographieren, wie es die Forscher mit dem Abgrund tun. In der Vorbeugung vor der schlichten Erhabenheit der Natur entstehen Tableaus von malerischer Qualität, keine dokumentarischen Abbilder, sondern künstlerische Durchdringungen, die von den großen Meistern der Romantik stammen könnten. Tatsächlich hat sie ein Altmeister des Kinos auf die Leinwand gebannt: Kameramann Renato Berta, der inzwischen auf die 80 zugeht, arbeitete schon mit Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Alain Resnais, Éric Rohmer, Manoel de Oliveira und Amos Gitai zusammen.
Worum es Michelangelo Frammartino, der in Mailand geboren wurde, aber seine Wurzeln in einem kleinen Dorf in Kalabrien hat, in seinem dritten abendfüllenden Film geht? Einen Hinweis gibt eine Szene vom abendlichen Treffen der Dorfgemeinschaft im Jahre 1961. Man trifft sich zum gemeinsamen Fernsehen bei einer Bar. Dort läuft eine Reportage über das gerade gebaute Pirelli-Hochhaus in Mailand, mit 127 Metern damals das höchste Gebäude der norditalienischen Metropole. Wortreich fährt der TV-Journalist außen in einem Korb an der Fassade entlang und kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Ist das dieselbe zerstörerische Haltung des Fortschrittglaubens, könnte man sich fragen? Die einen wollen hoch hinaus, die anderen noch tiefer hinunter. Und was haben die Höhlenforscher aus dem reichen Norden hier im armen Süden zu suchen? Kommen sie als Naturfreunde oder doch als Kolonisatoren? Auf diese Fragen läuft das äußerst zurückgenommene filmische Experiment, das beim Festival in Venedig 2021 den Spezialpreis der Jury gewann, wohl hinaus. Antworten sollte man von einer derart stillen und in sich versunkenen Andacht freilich nicht erwarten.
OT: „Il Buco“
Land: Italien, Frankreich, Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Michelangelo Frammartino
Drehbuch: Michelangelo Frammartino, Giovanna Giuliani
Kamera: Renato Berta
Besetzung: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola Lanza
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