Japan im 14. Jahrhundert. Als sich der junge Tomona mit seinem Vater aufmacht, um ein Schiffswrack zu bergen, ahnen sie nicht, was sie dort finden. So war dort bislang ein legendäres Schwert verborgen, welches erst einmal enthüllt Tomona das Augenlicht raubt und seinen Vater tötet. Durch das Land ziehend macht der Junge die Bekanntschaft einer Gruppe ebenfalls erblindeter Biwa-Musiker und beschließt, sich diesen anzuschließen und seinen Namen in Tomoichi zu ändern. Während er mit seiner neuen Familie umherreist, trifft der mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsene Musiker auf einen deformierten Noh-Tänzer, der sein Gesicht hinter einer Kürbismaske versteckt und sich den Namen Inu-Oh gegeben hat. Die beiden Außenseiter verstehen sich auf Anhieb und entscheiden, fortan als Duo aufzutreten – was ihnen gleichermaßen Fans wie Feinde einbringt …
Zurück zu den sonderbaren Wurzeln
Zuletzt hatte man bei Kultregisseur Masaaki Yuasa ein wenig das Gefühl, dass er anfängt, zu sehr in Richtung Mainstream zu schielen. Klar, ungewöhnlich waren Filme wie Ride Your Wave noch immer. Wie oft hat man schon Geschichten, bei dem eine junge Frau mittels Wasser mit ihrem verstorbenen Freund spricht? Doch das war kein Vergleich zu Mind Game und den anderen abgedrehten Sachen, mit denen der Japaner zu Beginn seiner Karriere zu einer Ausnahmeerscheinung wurde. So groß die Freude jedes Mal ist, wenn sich der Anime-Meister zurückmeldet, so groß die Freude über die erstaunliche Produktivität in den letzten Jahren: Seine Filme und Serien waren doch ein ganzes Stück konventioneller geworden, gerade auch im Hinblick auf die Inszenierung.
Mit Inu-Oh scheint er nun wieder stärker ins Experimentelle gehen zu wollen, wenn er uns auf eine Reise mit ins alte Japan nimmt. Ein bisschen zumindest. Anfangs meint man noch, es ginge um den Kampf zweier angesehener Samurai-Familien, wenn in der legendären Seeschlacht von Dan-no-ura der Genji-Clan den der Heike besiegt. Schließlich sind diese Herrschaftskriege neben Samurais eines der beliebtesten Motive solcher historischen Japansettings. Stattdessen stehen jedoch zwei Künstler im Mittelpunkt. Der durch ein heiliges Schwert erblindete Tomona spielt eine Biwa, eine Laute, die in der klassischen japanischen Musik zum Einsatz kommt. Der mit zahlreichen Deformationen geborene Inu-Oh – auf Deutsch „König der Hunde“ – hat sich dem Noh-Tanz verschrieben und versteckt sein Gesicht hinter einem Kürbis.
Eine etwas andere Underdog-Geschichtsschreibung
Wenn die beiden Außenseiter durchs Land tingeln und dabei zunehmend zu Ruhm kommen, dann klingt das schon wie eine dieser typischen Rags-to-Riches-Underdog-Geschichten, die das Herz wärmen sollen. Das tut der Anime auch. Er tut es aber auf eine ganz eigene Weise. Da gibt es genügend Punkte, welche Inu-Oh von thematisch ähnlich gelagerten Filmen unterscheiden. Zu denen zählen die wiederkehrenden Fantasy-Elemente. Schon die erste Szene mit Tomona und seinem Vater, die eine unglückliche Begegnung mit Kusanagi-no-Tsurugi haben, dem legendären Schwert, welches in der japanischen Mythologie eines der drei Throninsignien darstellt, gibt die Richtung vor. Später kommen dämonische Kräfte zum Einsatz. Auch der allmähliche Wandel des deformierten Titelhelden zu einem normalen Menschen ist Ausdruck davon.
Eng damit verbunden ist die philosophische Ausrichtung des Films. So erzählt Yuasa immer wieder von Identität bzw. der Suche danach. Der Akt der Namensgebung wird dabei wie im Anime-Klassiker Chihiros Reise ins Zauberland zu einem Symbol für Selbstbestimmung. Und eben auch der Selbstsuche. Das ist alles im steten Wandel, bei beiden Protagonisten. Doch das gilt ebenfalls für das Motiv der Geschichtsschreibung, ein weiterer roter Faden in Inu-Oh. Der Anime, der auf den Filmfestspielen von Venedig 2021 Premiere feierte, ist dabei kein Historienfilm in dem Sinn, der dem Publikum erzählen will, wie es war. Vielmehr stellt er in Frage, wie viel von dem, das wir heute wissen, das Ergebnis realer Ereignisse ist und wie viel das Ergebnis von Geschichtsschreibung der Sieger. Denn nachdem der Genji-Clan siegreich war, ist er es, der bestimmt, wie sich in Zukunft erinnert werden soll. Wenn die zwei Künstler auftreten, dann auch mit dem Ziel, ihre eigene Geschichte schreiben zu dürfen.
Bombastisch, philosophisch, irre
Stoff zum Nachdenken gibt es also einiges. Und noch viel mehr Stoff zum Hören. Yuasa, der schon in Lu Over the Wall seine Liebe für die Musik ausdrückte, setzte das Drama als Rockoper um – bombastisch, philosophisch und irgendwie irre. Da treffen teuflische Flüche auf Überlegungen zu Identität und selektiver Geschichtsschreibung, Serienmorde gehen mit einer magischen Transformation einher. Und eben viel Musik: Immer wieder wird die Handlung durch Auftritte der beiden unterbrochen, die von Mal zu Mal größer werden und damit zu einem Problem für die Herrschenden. Sie können auch zu einem Problem für das Publikum sein, sofern es mit dem ausufernden und in dem Kontext bewusst unpassenden Rock nichts anfangen kann. Aber selbst wenn sich diese Szenen etwas ziehen, bleibt genug zurück. Das Herz des Films bildet die Freundschaft, die inmitten eines Wirbelwinds entsteht und dabei Gewalt und Tod trotzt. Das Ergebnis ist tieftraurig und lebensbejahend zugleich, eine Liebeserklärung an die Befreiung durch die Kunst in Zeiten der Unterdrückung – was diesen eigenwilligen Anime selbst zeitlos macht.
OT: „Inu-Oh“
Land: Japan
Jahr: 2021
Regie: Masaaki Yuasa
Drehbuch: Akiko Nogi
Vorlage: Hideo Furukawa
Musik: Yoshihide Otomo
Animation: Science SARU
Wer mehr über Inu-Oh erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, ein Interview mit Kult-Regisseur Masaaki Yuasa zu führen und ihm einige Fragen zu seinem Anime zu stellen.
Venedig 2021
Toronto International Film Festival 2021
Nippon Connection 2022
Fantasia Film Festival 2022
Sitges 2022
Transit Filmfest 2022
International Film Festival Rotterdam 2023
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