Nach einigen Jahren kehrt Šarlota (Natalia Germani) in ihr abgelegenes Heimatdorf in die Karpaten zurück, um dort mit ihrer schwierigen Vergangenheit und dem mysteriösen Tod ihrer Mutter und Schwester abzuschließen. Auf freundliche alte Gesichter trifft Šarlota dabei nicht. Einzig die selbstbestimmt auftretende Mira (Eva Mores) steht ihr bei, als der Rest des Dorfes ihr zu verstehen gibt, dass sie ungewollt im Dorf ist. Durch verschiedene Ereignisse bringen die beiden die Dorfgemeinschaft immer weiter gegen sich auf, bis die Spannung zu eskalieren droht und altbekannte Mittel herangezogen werden.
Folklore in der Mitte der Gesellschaft
Im Zuge von Filmen wie The Witch und Midsommar hat der Folk-Horror in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre einen Aufwind und neuen feministischen Anstrich bekommen. Auch der slowakische Film Nightsiren reiht sich hier ein und verbindet eine weitgehend isolierte Gemeinde mit fragwürdigen Bräuchen. Was Nightsiren aber herausstechen lässt, ist die relative Alltäglichkeit dieser Bräuche. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Genre-Vertretern gibt es hier keinen Okkultismus und keine Menschenopfer, sondern Bräuche zum Osterfest, wie sie in zahlreichen europäischen Dörfern zu finden sein dürften. Im Grunde Bräuche, die in einer konservativen Gesellschaft normalisiert sind.
Spannenderweise zeigt Nightsiren gleichzeitig auch, wie normalisiert unter anderem Misogynie und Homophobie in einer solchen Gesellschaft sind und wie diese Art von Bräuchen sie reproduzieren. Denn es ist zwar klar, dass man durch das Verbrennen von als Hexen verkleideten Strohpuppen nicht das Bedürfnis bekommt, echte Menschen zu verbrennen. Aber es ist zu erkennen, wie fragil die Grenze des als normal Akzeptierten zum klaren Extremismus und Fanatismus wird, wenn bestimmte Bilder weitergezeichnet werden. Entsprechend ist das Folk-Horror-Setting fast schon als ironisch zu verstehen, wenn die Situation in Nightsiren mit anderen Genre-Vertretern verglichen wird. Das gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass Nightsiren zwar grobe Strukturen und die düstere Stimmung eines Horrorfilms aufweist, sich über weite Strecken aber eher wie ein Drama verhält. Der Horror des Films liegt nicht in einem ausgefallenen Szenario, das versucht, uns Zuschauende mit Fremdartigem zu ängstigen, sondern in der Erkenntnis, wie alltäglich das Gezeigte eigentlich ist.
Die Hexen der Gegenwart
Rein thematisch unterscheidet sich der Film nämlich nur wenig vom Altbekannten. So beleuchtet er im Detail vor allem die Phänomene sexuelle Selbstbestimmtheit und das Rollenbild Mutter. Beides geschieht in vielen Horrorfilmen, aber Nightsiren schafft es, eine unmittelbarere Relation zur Gegenwart herzustellen. Anstatt ein altes Setting zu präsentieren und anzudeuten, dass die veralteten Strukturen auch heute noch zu finden sind, dreht er das Ganze um. So wird mit dem Vertrauten des Genres gespielt, sodass das Dargestellte wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Im Konkreten ist das gerade an den Erwartungen an das Verhalten der Frauen im Dorf zu sehen. So gelten Frauen, die sexuell selbstbestimmt aktiv sind, als verachtenswert. Gleichzeitig haben sie aber als williges Objekt der Begierde für Männer herzuhalten. Sie müssen Sexualität ausstrahlen, dürfen aber nicht selbst über sie verfügen. Letztlich wird ihnen die Mündigkeit entzogen. Wenn sie aufbegehren, werden sie bestraft. Etwas, das der Film sehr schön an der Figur Mira zeigt und nicht nur zufällig eine derart ähnliche Struktur zu den Hexenverfolgungen aufweist. Es zeigt sich schonungslos, wie nah 2022 und 1622 bei einander liegen.
Quasi parallel dazu steht das Bild der Mutterschaft, das das oberste Ziel für jede Frau zu sein hat. Wird dieses verfehlt, ist auch hier gesellschaftliche, aber auch eigene Bestrafung die Konsequenz. Quasi stellvertretend zeigt der Film hier Šarlota, die zum einen von der Dorfgemeinschaft verachtet wird, sich aber auch selbst schuldig für das Verfehlen dieses Rollenbilds fühlt. Ebenfalls etwas, das auch heute noch oft festzustellen ist, egal, ob es um die Unfähigkeit oder Unwilligkeit einer Frau geht, Kinder zu bekommen.
Zu verkopft
Doch trotz dieses vielversprechenden Ansatzes ist Nightsiren bei weitem nicht perfekt. Sein vermutlich größtes Problem ist, dass er immer wieder mit mystischen Elementen und der Andeutung von Übernatürlichem spielt. Nicht nur untergräbt er damit seine eigene Prämisse ziemlich stark, auch erzählerisch leidet der Plot darunter, da sämtlicher toxischer Aberglaube nun fast schon gerechtfertigt wirkt und viele der verschiedenen Charaktermotivationen nicht mehr funktionieren.
Darüber hinaus wird auch der Hintergrundgeschichte von Šarlotas Mutter und Schwester zu viel Platz eingeräumt. Diese trägt nur wenig zu den angesprochenen Themen bei und kann auch der Stimmung und dem Aspekt Trauma nur zu einem gewissen Maximum behelfen. Zu repetitiv und mit Hexensymbolik überladen ist das Ganze und sorgt schlussendlich dafür, dass sich der Film über Strecken doch ziemlich zieht. Auch die Auflösung der ganzen Mystik wirkt am Ende etwas unrund und zu verkopft.
OT: „Svetlonoc“
Land: Slowakei, Tschechien
Jahr: 2022
Regie: Tereza Nvotová
Drehbuch: Tereza Nvotová, Barbora Námerová
Musik: Pjoni, ROB
Kamera: Federico Cesca
Besetzung: Natalia Germani, Eva Mores, Juliana Oľhová, Iva Bittová, Jana Oľhová, Marek Geišberg
Locarno 2022
Sitges 2022
Transit Filmfest 2022
Fantasy Filmfest Nights 2023
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