Seit dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren muss sich Sandra (Léa Seydoux) allein um ihre Tochter Linn (Camille Leban Martins) kümmern. Im Großen und Ganzen kommt sie damit zurecht, auch wenn es nicht immer einfach ist, diese Aufgabe und ihre Arbeit als Dolmetscherin in Einklang zu bringen. Doch zuletzt geht es im Leben der Mittdreißigerin drunter und drüber. So leidet ihr Vater Georg (Pascal Greggory) an einer neurodegenerativen Krankheit, verlor erst sein Augenlicht, bevor nun auch sein Gehirn beeinträchtigt ist, was eine große Strafe ist für den ehemaligen Professor. Und dann steht auf einem Clément (Melvil Poupaud) vor ihr. Viele Jahre hatte sie ihren alten Freund nicht mehr gesehen. Dafür sind die Gefühle zwischen den beiden umso stärker. Doch auch das stellt ein Problem dar, ist er doch verheiratet und hat einen Sohn …
Eine Zeit des Umbruchs
In ihren Filmen zeigte Mia Hansen-Løve zuletzt bevorzugt Menschen, die sich an einer Art Wendepunkt in ihrem Leben befinden und für sich eine Entscheidung treffen müssen, wie es weitergehen soll. Bei Alles was kommt folgt sie einer Philosophieprofessorin, die nach mehreren Verlusten unsicher wird. In Maya ist es ein Reporter, der sich nach einer Gefangenschaft in Syrien neu sammelt. Zuletzt stellte sie uns in Bergman Island eine Regisseurin vor, die neue Inspirationen sucht, nachdem sie mit ihrem neuesten Werk nicht vorankommt. Bei An einem schönen Morgen kehrt die französische Filmemacherin nun nach Paris zurück und beleuchtet das Leben einer Mittdreißigerin. Und auch bei ihr beschreibt sie eine Zeit des Umbruchs, irgendwo zwischen Abschied und Neuanfang.
Wie viele ihrer Geschichten ist auch diese biografisch gefärbt. Genauer verarbeitet Hansen-Løve darin den Tod ihres Vaters, der zuvor pflegebedürftig geworden war. Wobei ihr neuester Film keines dieser Krankheits- oder Sterbedramen ist, die sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzen. Obwohl es an mehreren Stellen offensichtlich gewesen wäre, geht es auch nicht um die Situation alter Menschen, deren Pflege zu einem Luxus geworden ist, den sich viele nicht leisten können. Statt eines gesellschaftlichen Ansatzes bleibt An einem schönen Morgen ganz im Persönlichen und wählt die Perspektive der Tochter. Was macht es mit jemandem, der seine Eltern auf diese Weise verliert? Wie baut man eine derart einschneidende Erfahrung in seinen Alltag ein?
Alltagsnah und ohne großes Drama
Wobei die Regisseurin und Drehbuchautorin ihrer Art treu bleibt und aus diesem Ereignis nicht das ganz große Drama macht. Wie ihre vorangegangenen Filme ist auch An einem schönen Morgen zurückhaltend erzählt und besteht aus vielen sehr alltäglichen Szenen. Die impressionistischen Einblicke in das Leben von Sandra sind dabei durchaus chronologisch angeordnet, ergeben aber keine Handlung in dem Sinn. Stattdessen gibt es einen Wechsel aus schönen und traurigen Momenten, sowohl bei dem Umgang mit dem Vater wie auch der sich entwickelnden Affäre. Letztere wird von Hansen-Løve nie kommentiert oder gar bewertet. Wo andere Filme solche Seitensprünge entweder verurteilen oder beschönigen, da ist der Französin beides fremd. Sie beschreibt nur, zeigt, was in der Welt geschieht, als stille Beobachterin, wie in einem Dokumentarfilm.
Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht einfühlsam ist. Obwohl der Film bewusst nüchtern gehalten ist und die Tragik der Ereignisse nicht ausschlachtet, sind da immer wieder Momente dabei, die einem nahegehen. Das prominent besetzte Drama, das bei der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes 2022 Premiere feierte, ist sogar gerade aufgrund der Alltäglichkeit ein Film, bei dem es nicht schwerfällt, sich in diesem wiederzufinden. An einem schönen Morgen mag dabei nichts Neues erzählen oder dem Publikum Ratschläge mit auf den Weg geben, wie es sich in solchen Situationen zu verhalten hat. Aber es hat doch etwas Tröstliches, wie Hansen-Løve etwas Verbindendes in dem Leben von Sandra findet, sogar ein bisschen Hoffnung mitgibt. Auch wenn hier nicht beschönigt wird, es nicht das Happy End gibt, bei dem dann alles gut wird: Da sind so viele kleine Lichtblicke dabei, so viele schöne Morgen, für die es sich weiterzumachen lohnt.
OT: „Un beau matin“
IT: „One Fine Morning“
Land: Frankreich, Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Mia Hansen-Løve
Drehbuch: Mia Hansen-Løve
Musik: Allan Gray
Kamera: Denis Lenoir
Besetzung: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins
Wer nach dem Film noch mehr lesen möchte: Wir hatten die Gelegenheit, zum Kinostart von An einem schönen Morgen ein Interview mit Regisseurin und Drehbuchautorin Mia Hansen-Løve zu führen und über Wandel, Hoffnung und das Alter zu sprechen.
Cannes 2022
Toronto International Film Festival 2022
Zurich Film Festival 2022
Film Festival Cologne 2022
Around the World in 14 Films 2022
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