Italien, 1945: Der Zweiter Weltkrieg neigt sich langsam seinem Ende zu, doch die Spuren der letzten Jahre sind überall zu sehen. So auch in dem verlassenen Bergkloster, in dem sich die kanadische Lazarettschwester Hana (Juliette Binoche) um einen Patienten (Ralph Fiennes) kümmert. Niemand weiß, wer er ist, hat er doch bei einem Flugzeugabsturz nicht nur zahlreiche Verbrennungen davongetragen, sondern dabei auch sein Gedächtnis verloren. Hana ist fest entschlossen, die kurze ihm verbleibende Zeit an seiner Seite zu bleiben und für ihn zu sorgen, während alle anderen bereits weitergezogen sind. Auf diese Weise kommen sie sich nach und nach näher. Und auch das Gedächtnis des Mannes kehrt zurück. So handelt es sich bei ihm um den ungarischen Grafen Laszlo Almasy, der eine Expedition leitete und dabei eines Tages die Bekanntschaft von Katharine Clifton (Kristin Scott Thomas) macht, mit der er eine leidenschaftliche Affäre beginnt …
Ein überlebensgroßes Melodram
Wenn Filme damit beginnen, dass die Hauptfigur sich nicht erinnern kann, dann dient das oft dem Spannungsaufbau. Das Publikum soll sich gemeinsam mit dem oder der Gedächtnislosen auf eine Reise ins Unbekannte begeben. Gerade im Thrillerbereich ist dieses Szenario sehr beliebt, ist dies doch automatisch mit einen Mystery-Aspekt verbunden, oft auch mit irgendwelchen dunklen Geheimnissen. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Eines der berühmten ist ohne Zweifel Der englische Patient. Der Film war nicht nur an den Kinokassen ein Gigant, spielte bei einem Budget von rund 30 Millionen US-Dollar am Ende 230 Millionen wieder ein. Er war zudem der große Abräumer bei der Oscar-Verleihung 1997, gewann am Ende neun Preise bei zwölf Nominierungen – darunter den für den besten Film des Jahres.
Natürlich kann man sich über Sinn und Legitimität des wichtigsten Filmpreises immer streiten. Unstrittig ist aber, dass Der englische Patient ein beeindruckender Film ist, bei dem man an vielen Stellen mit offenem Mund vor der Leinwand saß. Regisseur und Drehbuchautor Anthony Minghella (Der talentierte Mr. Ripley) nahm den gleichnamigen, ebenfalls preisgekrönten Roman von Michael Ondaatje und schuf damit eines der großen Melodramen der neueren Zeit. Tatsächlich ist die Geschichte um einen ungarischen Grafen, der in die Wirren des Ersten Weltkriegs hineingezogen wird und sich dabei unsterblich verliebt, ein Werk, wie man es in den 1990ern nicht mehr erwartet hätte. Vielmehr fühlt man sich hier an die epischen Dramen von anno dazumal erinnert, bei denen alles überlebensgroß war: Bilder, Menschen, Gefühle.
Exzessiv und überwältigend
Dass die Geschichte mit der realen Lebensgeschichte von Almasy nur am Rande zu tun hat, stört dann auch nicht weiter. Das interessierte Ondaatje ebenso wenig. Etwas stärker irritiert, dass die Rahmenhandlung rund um Lazarettschwester Hana eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. Auch wenn es Querverbindungen gibt und Hana durch die Begegnung mit ihrem Patienten maßgeblich beeinflusst wird, gibt es doch ein deutliches Ungleichgewicht der beiden Stränge. So deutlich, dass man sich zwischendurch bei Der englische Patient fragt, warum es die Rahmenhandlung überhaupt braucht. Aber auch sie enthält starke Szenen, erzählt von Einsamkeit und einem Neuanfang und gibt dem Film eine versöhnliche Note nach all der Tragik und dem vielen Leid. Ein Leid, das auf allen Seiten stattgefunden hat. Anders als bei anderen großen Kriegsromanzen wie African Queen ist das hier mit der Einteilung in Gut und Böse nicht ganz so leicht.
Dabei werden auch universelle Themen angeschnitten, die sich um den Krieg, aber auch die menschliche Natur als solche drehen. Dennoch wird man den Film eher poetisch als philosophisch nennen wollen. Der englische Patient ist eines dieser Werke, von denen man sich überwältigen lassen will, sei es durch die grandiosen Landschaftsaufnahmen oder auch das starke Ensemble, welches inmitten der Dunkelheit Herzen schlagen lässt. Natürlich, wer mit Gefühlskino nichts anfangen kann, macht einen Bogen hierum. Auch die exzessive Länge kann zu einem Problem werden, wenn vieles hier stärker ausgedehnt wird, als es der Inhalt erfordern würde. Die Meinungen zu dem Film gehen daher trotz Preisregen und Blockbuster-Status erstaunlich weit auseinander. Wer sich aber auf diese Art Melodram einlassen kann und will, kann ein Vierteljahrhundert später noch immer sehr viel in dieser Reise in die Vergangenheit entdecken, für die sich das Einschalten lohnt.
OT: „The English Patient“
Land: UK, USA
Jahr: 1996
Regie: Anthony Minghella
Drehbuch: Anthony Minghella
Vorlage: Michael Ondaatje
Musik: Gabriel Yared
Kamera: John Seale
Besetzung: Ralph Fiennes, Kristin Scott Thomas, Juliette Binoche, Willem Dafoe, Colin Firth, Naveen Andrews, Julian Wadham, Jürgen Prochnow
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Academy Awards | 1997 | Bester Film | Sieg | |
Beste Regie | Anthony Minghella | Sieg | ||
Bester Hauptdarsteller | Ralph Fiennes | Nominiert | ||
Beste Hauptdarstellerin | Kristin Scott Thomas | Nominiert | ||
Beste Nebendarstellerin | Juliette Binoche | Sieg | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Anthony Minghella | Nominiert | ||
Beste Musik | Gabriel Yared | Sieg | ||
Beste Kamera | John Seale | Sieg | ||
Bestes Szenenbild | Stuart Craig, Stephenie McMillan | Sieg | ||
Beste Kostüme | Ann Roth | Sieg | ||
Bester Ton | Walter Murch, Mark Berger, David Parker, Christopher Newman | Sieg | ||
Bester Schnitt | Walter Murch | Sieg | ||
BAFTA | 1997 | Bester Film | Sieg | |
Beste Regie | Anthony Minghella | Nominiert | ||
Bester Hauptdarsteller | Ralph Fiennes | Nominiert | ||
Beste Hauptdarstellerin | Kristin Scott Thomas | Nominiert | ||
Beste Nebendarstellerin | Juliette Binoche | Sieg | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Anthony Minghella | Sieg | ||
Beste Musik | Gabriel Yared | Sieg | ||
Beste Kamera | John Seale | Sieg | ||
Bester Schnitt | Walter Murch | Sieg | ||
Bestes Szenenbild | Stuart Craig | Nominiert | ||
Beste Kostüme | Ann Roth | Nominiert | ||
Bester Ton | Mark Berger, Pat Jackson, Walter Murch, Christopher Newman, David Parker, Ivan Sharrock | Nominiert | ||
Bestes Make-up/Haare | Fabrizio Sforza, Nigel Booth | Nominiert | ||
Berlinale | 1997 | Goldener Bär | Nominiert | |
Silberner Bär/Beste Darstellerin | Juliette Binoche | Sieg | ||
César | 1998 | Bester ausländischer Film | Nominiert | |
Europäischer Filmpreis | 1997 | Bester Film | Nominiert | |
Beste Darstellerin | Juliette Binoche | Sieg | ||
Beste Kamera | John Seale | Sieg | ||
Golden Globes | 1997 | Bester Film (Drama) | Sieg | |
Beste Regie | Anthony Minghella | Nominiert | ||
Bester Hauptdarsteller (Drama) | Ralph Fiennes | Nominiert | ||
Beste Hauptdarstellerin (Drama) | Kristin Scott Thomas | Nominiert | ||
Beste Nebendarstellerin | Juliette Binoche | Nominiert | ||
Bestes Drehbuch | Anthony Minghella | Nominiert | ||
Beste Musik | Gabriel Yared | Sieg |
Berlinale 1997
Filmfest München 2019
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