Seit dem Tod ihres Mannes lebt Frau Pospisil (Berta Kammer) alleine in ihrer Etagenwohnung in Wien. Zwar ist sie schon 80 Jahre alt, doch den Haushalt kann sie nach wie vor meistern, auch wenn sie hin und wieder etwas vergesslich ist und Dinge verlegt. Ihr Sohn Patrick (Philipp Hochmair) sieht dies ganz anders und betrachtet den Zustand seiner Mutter als beginnende Demenz, weshalb er ihr am liebsten ein Zimmer in einem Altersheim geben würde. Davon will seine Mutter nichts wissen, lehnt jegliches Gespräch über dieses Thema ab und wirft die Broschüren über solche Einrichtungen, die ihr Sohn ihr immer wieder mitbringt, zum Altpapier.
Viel dringender erscheint ihr hingegen das Problem mit den unliebsamen Mitbewohnern, genauer gesagt den Ameisen, von denen sich hinter den Wänden eines Raumes scheinbar eine ganze Kolonie gebildet hat. Mit bewährten Hausmitteln ist den Insekten nicht beizukommen, und einer Abdichtung des Risses in der Wand folgt am nächsten Morgen gleich ein neuer, viel breiterer Riss als der vorherige. Hinzu kommt, dass Frau Pospisil vermutet, man würde in ihrer Wohnung einbrechen und ihre Sachen entwenden. Als sie sich eines Abends ein Herz nimmt und gewillt ist, den Eindringling zu konfrontieren, sie findet heraus, dass es sich um eine sehr viel ernstere Bedrohung handelt, als sie zunächst vermutet hat.
Eine Gruselminiatur
In der österreichischen Filmszene ist der Name von Regisseur Paul Ertl schon lange bekannt, denn der Mitbegründer der Oz Cinemathek und langjährige Mitarbeiter des Filmladen Verleihs hat sich mit der Zeit einen gewissen Ruf erarbeitet, sodass der Schritt hin zum Regiefach nur eine Frage der Zeit war. Mit dem von der Wiener Filmakademie mitproduzierten Der Riss legt er nun sein Regiedebüt vor, welches im Rahmen des SLASH Filmfestivals zu sehen war. In diesem beweist Ertl nicht nur, dass er die inszenatorische Klaviatur des Genres beherrscht, sondern zudem eine Geschichte über Themen wie Einsamkeit und Isolation erzählen kann.
Insgesamt wirkt die Grundsituation von Der Riss wie ein Übungsstück, vor allem in Sachen Atmosphäre und Rauminszenierung. Besonders auf diesen letzten Aspekt legen Ertl und sein Kameramann Lukas Schöffer erhöhten Wert, wenn man sich die einzelnen Bilder ansieht, welche die stetige Auflösung des Bekannten hin zum Unheimlichen begleiten. Immer mehr wirkt die Wohnung, in welcher die Hauptfigur einen Großteil ihres Lebens verbracht hat, wie ein feindlicher Raum, der zudem noch von einer fremden Macht übernommen wird, gegen die sich die Frau mit aller Macht zu Wehr setzen will. Lichteinsatz, Perspektive, die Tongestaltung und kleine Details wie die Tapete vervollständigen eine ambivalente Atmosphäre, welche die Möglichkeit des Übernatürlichen ebenso bedient wie die der einsetzenden Demenz der alten Dame.
Gesehen werden
Genrefans werden ihre Freude an diesen anspielungsreichen und raffinierten kleinen Film haben. Vor allem Roman Polanskis Ekel oder Jospeh Loseys Der Diener scheinen Pate gestanden zu haben für einige der Aufnahmen, welche zudem noch die Themen dieses Filmes in den Mittelpunkt stellen. In Kombination mit der großartigen Berta Kammer in der Hauptrolle deutet das Narrativ noch auf die wachsende Einsamkeit und Isolation der alten Dame hin, die ihr mehr und mehr zu schaffen macht, ohne dass sie sich dieser Tatsache gewiss ist. Die Ameise, eine gängige Metapher für das Alleinsein, wird zu einer Prüfung, die sie bestehen oder vor der sie kapitulieren muss. Viel überzeugender als die tatsächlichen Horrorelemente gegen Ende hin, sind daher jene Szenen, die den Gefühlszustand der Protagonistin einfangen, beispielsweise, wenn sie mit einer Mischung aus Frust und Sehnsucht auf eine Weihnachtsfeier im Nachbarhaus schaut.
Im Zentrum steht in Der Riss der immerwährende Kampf ums Gesehen-werden. Berta Kammer als Frau Pospisil stellt überzeugend das Verlangen dar, anders wahrgenommen zu werden als es das Bild der alten, hilfsbedürftigen und zudem noch senilen Frau erlaubt. Ertls Film wird damit zu einer Geschichte über den Versuch eines Ausbruchs aus dieser Wahrnehmung, was für einen Horrorfilm ein mehr als lohnenswerter Ansatz ist.
OT: „Der Riss“
Land: Österreich
Jahr: 2022
Regie: Paul Ertl
Drehbuch: Paul Ertl
Musik: Bernd Jungmair
Kamera: Lukas Schöffel
Besetzung: Berta Kammer, Philipp Hochmair, Eva Maria Marold, Max Ortner, Markus Schleinzer
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)