In einer düsteren Mietwohnung lebt Albert Scellinc (Paul Hilton) mit der minderjährigen Mia (Romaine Hemelaers) zusammen und kümmert sich um diese im Dienste eines unbekannten „Meisters“, der sich regelmäßig per Telefon nach dem Wohl des Mädchens erkundigt. Abgesehen davon, dass er sie verpflegt, ist Albert nämlich auch für Mias Zähne verantwortlich, die aus Eis sind und mehrmals am Tage gewechselt werden müssen. Aus den Restbeständen der alten sowie dem Speichel des Mädchens fertigt er ein neues Paar an, mittels einer Reihe von Formen, die man ihm zur Verfügung gestellt hat. Außer den Anrufen haben die beiden keinen Kontakt zur Außenwelt, wie es der „Meister“ auch wünscht. Doch eines Tages ändert sich dies, als man Albert den Auftrag gibt, Mia dafür bereitzumachen, die Wohnung zu verlassen. Seine Skepsis, ob Mia überhaupt bereit für diese Veränderung ist, bewahrheitet sich, als das Mädchen während eines Spaziergangs in einem nahen Park, versucht sich zu ertränken, wobei Albert sie in letzter Minute retten kann. Zusätzlich wird er verfolgt von Erinnerungen an seine Frau und seine Kindheit, die ihm keine Ruhe mehr lassen und nun, da er wieder häufiger aus der Wohnung kommt, häufiger werden.
Bei einem Besuch der nahen Gaststätte kommt es eines Abends gar zu einem blutigen Unfall, als Albert die Kellnerin Celeste (Romola Garai) mit einem zerbrochenen Glas im Gesicht schwer verletzt. Ein Fremder (Alex Lawther) kümmert sich um sie, besucht die im Krankenhaus und begleitet sie auf ihrem Weg zu einem Landhaus, welches seltsamerweise auch das Ziel von Mia und Albert zu sein scheint.
Coming-of-Age und Märchen
In den Filmen der französischen Regisseurin Lucile Hadzihalilovic werden immer wieder Geschichten von Jugendlichen und Kinder erzählt auf ihrem Weg in die Erwachsenenwelt oder generell in eine Realität abseits einer behüteten Welt, in welcher die bislang gelebt haben. In dem Roman Earwig des Briten Brian Catling fand sie jene Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte mit Mystery- und Horrorelementen vor, der bereits Innocence und Evolution auszeichnet und Hadzihalilovic Bekanntheit unter Filmfans und Kritikern verschaffte. Dabei gehrt es auch um eine Begegnung mit inneren Dämonen und Verdrängung, was das Coming-of-Age-Element bisweilen zu einem Nebenschauplatz degradiert.
In vielen Rezensionen, zu diesem Werk wie auch zu den vorherigen der Regisseurin, wird auf die Parallelen zu den Filmen eines David Lynch, David Cronenberg und Jean-Pierre Jeunet hingewiesen. Von der ersten Minute an, wenn man die Routine und die Welt der beiden Hauptcharaktere betritt, wird man diese Vergleiche wohl auch heranziehen, bieten diese sich doch an bei der düsteren Wohnung sowie dem Verhalten der beiden Figuren, die zwar miteinander leben, aber bis auf Aspekte wie den bereits erwähnten Tausch der Zähne und die Nahrungsaufnahme wenige Berührungspunkte haben. Der Außenwelt sind beide entrissen, sodass die Wohnung wie ein Gefängnis anmutet, vor allem für Mia, während Albert sich vor etwas zu verstecken scheint und sich am wohlsten fühlt, wenn er einfach nur in den wenigen, überschaubaren Quadratmetern bleiben kann. Vielsagende, teils sehr traurige Bilder lassen auf das Innenleben schließen, beispielsweise, wenn die Kamera die aus alten Zeitungen, selbstgemachten Spielzeuge des Mädchens einfängt oder das Knirschen der Zähne, was wie eine Bestätigung der eigenen Abnormalität wirkt.
Die Welt da draußen
Bei all den vielschichtigen, teils sehr abstrakten Bildern bleibt Earwig immer nah bei den Figuren, mit einem empathischen Blick wie auf Mia, oder einem neutralen wie auf Albert oder später Celeste. Entsprechend minimalistisch angelegt sind die Darstellungen an sich, die wenig von dem inneren Drama der Figuren preisgeben und Rückschlüsse auf dieses eher dem Zuschauer überlassen. Besonders hervorzuheben sind dabei Hilton und Hemelaers, deren Zusammenspiel den emotionalen Kern eines Films stellt, der sich oftmals in seinen Bildern verliert. Der später dazukommende zweite Erzählstrang rund um Romola Garais Charakter ist schauspielerisch ebenso sehenswert, auch wenn sich das Drehbuch sehr viel Zeit lässt für deren Verbindung, obwohl diese für manchen Zuschauer wohl mehr als offensichtlich sein wird.
Wie schon erwähnt, wenn man Earwig allein auf ästhetische Ebene rezipiert, ist es ein sehr eleganter, düster-schöner Film, doch erzählerisch rechtfertigt Hadzihalilovic nicht unbedingt die Laufzeit ihres Projekts, trotz des späten Hinzufügens eines weiteren Erzählstrangs. Bezogen auf die Figuren Hiltons und Garais ist das Märchenhaft-Verrätselte teils sehr anstrengend und impliziert eine narrative Komplexität, die man aber nirgends findet.
OT: „Earwig“
Land: UK, Frankreich, Belgien
Jahr: 2021
Regie: Lucile Hadzihalilovic
Drehbuch: Lucile Hadzihalilovic, Geoff Cox
Musik: Nicolas Becker, Warren Ellis, Augustin Viard
Kamera: Jonathan Ricqueberg
Besetzung: Paul Hilton, Romane Hemelaers, Alex Lawther, Romola Garai, Anastasia Robin
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