Regisseurin Emily Atef im Rio Kino während des 39. Filmfest München am 26. Juni 2022 © Filmfest München / Bernhard Schmidt

Emily Atef [Interview 2022]

In Mehr denn je (Kinostart: 1. Dezember 2022) erzählt Emily Atef die Geschichte eines glücklichen Paares, das von einer schweren Krankheit erschüttert wird. Die Heilungsaussichten sind gering, viel kann nicht mehr getan werden. Doch was heißt das für das Paar? Während Hélène (Vicky Krieps) für sich entscheidet, in eine abgelegene Gegend Norwegens ziehen zu wollen, um dort Zeit für sich zu haben, will ihr Mann Mathieu (Gaspard Ulliel) die verbleibende Zeit mit ihr verbringen – was beide an ihre Grenzen bringt. Wir haben die Regisseurin und Autorin bei der Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München 2022 getroffen und dort mit ihr über den Umgang mit dem Tod und die Suche nach individuellen Antworten gesprochen.

 

Könnten Sie uns etwas über den Hintergrund von Mehr denn je erzählen? Wie sind Sie auf die Idee für den Film gekommen?

Ich war schon immer fasziniert von dem Moment des Loslassens, schon als ich ein junges Mädchen war. Damit meine ich nicht den Tod an sich, sondern das genau davor. Also das Leben. Ich weiß noch, wie unser Hund damals eines Tages spurlos verschwunden ist und wir uns nicht erklären konnten, was mit ihm geschehen ist. Eine Tierärztin erklärte uns dann, dass der Hund aus der Familie der Wölfe kommt und es dort normal ist, wenn die Tiere das Rudel verlassen, ganz leise, um sich einen kleinen Ort der Ruhe zu suchen, an dem sie sterben können. Die machen da kein großes Tamtam draus. Ich war fasziniert davon, wie wir versuchen, die letzten Momente unseres Lebens gut leben zu können. Während der langen Zeit, in der ich an Mehr denn je gearbeitet habe – die Idee hatte ich 2010, der Dreh begann 2021 – habe ich Menschen verloren, die mir nahestanden. Da konnte ich beobachten, was es für die Hinterbliebenen bedeutet und wie wir mit einer solchen Situation umgehen. Das ist sehr spannend, denn irgendwann geraten wir alle in solche Situationen. Und wir reden viel zu selten darüber, was die Leute beim Sterben wollen. Wo wollen sie sein? Wollen sie jemanden um sich haben? Viele trauen sich nicht offen zu sagen, dass sie lieber allein sterben wollen. Mir geht es in meinem Film deshalb auch nicht um den Tod, sondern um das Leben in diesem Moment. Und es geht um eine große Liebe, die sich hier darin äußert, jemanden loszulassen.

Wenn man sich Todesanzeigen anschaut, steht da oft, jemand sei im Kreis seiner Familie gestorben, wodurch impliziert wird, dass dies die Idealversion des Sterbens darstellt. Für Hélène ist es das nicht. Warum will sie diese Nähe nicht?

Ich glaube, dass dies ein Moment ist, der sehr persönlich ist. Für jeden ist das anders. Wie viele Menschen haben in Krankenhäusern darauf gewartet, dass die Familie im Krankenhaus sich einen Kaffee holt, um dann loszulassen? Wie viele Menschen haben gewartet, dass die Tochter am Abend nach Hause geht, nur um dann in der Nacht zu sterben? Genauso gibt es aber auch Menschen, die bis zum letzten Moment die Hand halten wollen. Hier gibt es kein richtig und kein falsch. Ungewöhnlich an Hélène ist nicht, dass sie ihre Familie und ihren Partner nicht um sich haben will, wenn es so weit ist. Ungewöhnlich ist, dass sie diesen Wunsch äußert. Das tut sie nicht, weil sie Mathieu nicht liebt. Sie liebt ihn sogar sehr. So sehr, dass sie ihn nicht leiden sehen will während ihres Sterbens. Und sie hat das Recht dazu. Es ist ihr Ende des Lebens, nicht seins.

Mit diesem Punkt ist auch die Frage nach der Verantwortung verbunden, wenn man die Verantwortung sich selbst gegenüber und die gegenüber der Familie miteinander abwägen muss. Sie würden sagen, dass die Verantwortung sich selbst gegenüber die schwerwiegendere ist?

Natürlich.

Es gibt auch Leute, die an der Stelle sagen würden, sie stellen die Wünsche der Familie über den eigenen.

Das dürften sogar die meisten sein, weil sie nicht die Kraft haben, ihr Recht einzufordern. Viele fühlen sich auch so schon wie eine Last für die anderen. Da wollen sie es nicht noch schwieriger machen. Dabei gibt es andere Situationen, in denen es völlig normal ist, dass man allein ist. Niemand würde auf die Idee gekommen, ein Paar während der Flitterwochen zu begleiten. Dort hat sich das etabliert. Das ist Tradition. Beim Sterben ist das anders, auch weil es ein Tabu ist und sich niemand damit auseinandersetzen mag.

Plus que jamais Mehr denn je
Ein schwieriger Abschied: Mathieu (Gaspard Ulliel) muss lernen, seine todkranke Frau Hélène (Vicky Krieps) gehen zu lassen. (© Pandora Film)

Woher kommt denn Ihrer Meinung nach dieses Idealbild, dass beim Sterben alle an deiner Seite sind?

Ich denke, dass dies für viele einfach ein Ausdruck von Liebe ist, jemanden in schwierigen Situationen begleiten zu wollen. Sie wollen ihm nah sein und helfen und denken, dass sie das am besten tun können, indem sie dabei sind.

Kann man sich denn auf das Sterben vorbereiten?

Ich glaube schon. Man kann sich zumindest damit beschäftigen und auch darüber reden, wie es weitergehen soll. Wenn man weiß, was die Sterbenden wollen und brauchen, kann man ihnen viel besser helfen.

Hélène hat sich für das Sterben eine abgelegene Gegend in Norwegen ausgesucht, die wie ein kleines Paradies wirkt. Macht ein solch paradiesischer Ort das Loslassen einfacher oder schwieriger?  

Auch das ist etwas sehr Individuelles. Ich würde den Ort ebenfalls als paradiesisch beschreiben. Für andere wäre er das nicht. Die Natur dort ist schon sehr speziell und rau. Das kalte Wasser. Die hohen, dunklen Berge. Es ist nicht das Weiche und Pittoreske der Lavendelfelder in der Provence. Es ist nicht der Sonnenuntergang auf Tahiti. Stattdessen hast du dort ein sehr aggressives Licht, es wird nie wirklich dunkel. Mich inspiriert das sehr. Wir kommen von der Natur. Ihr ist es auch egal, ob wir sterben. Das nimmt sehr viel Druck raus. Deswegen ist ein solcher Ort für mich ein sehr organischer Ort um loszulassen und sehr viel besser geeignet als ein Krankenhaus mit diesem unnatürlichen Licht und diesen komischen Geräuschen. Aber wie gesagt, das ist etwas sehr Individuelles. Da hat jeder seine eigene Antwort. Andere werden lieber in ihrer Wohnung sein, umgeben von dem, was ihr Leben ausgemacht hat.

Mehr denn je ist Ihr erster Film, den Sie auf Französisch gedreht hat, während Ihre bisherigen Filme auf Deutsch waren. War das Zufall, dass Sie hier die Sprache wechseln, oder wollten Sie das so?

Das wollte ich tatsächlich. Ich bin Halbfranzösin und es war mir sehr wichtig, diesen Film in meiner Muttersprache zu drehen, weil es ein sehr persönlicher Film für mich ist. Es war auch eine sehr schöne Erfahrung und ich bin froh, dass ich die Möglichkeit dazu bekommen habe.

Das Französische ist Ihnen also näher als das Deutsche?

Ist es, ja. Ich bin zwar in Deutschland geboren. Meine Familie ist aber in die USA ausgewandert, als ich sieben Jahre war. Später lebte ich in Frankreich. Deswegen sind Englisch und Französisch mehr in mir drinnen als das Deutsche. Ich schreibe meine Drehbücher immer noch auf Englisch. Da ich aber in Berlin Regie studiert habe, hat dort auch meine Filmkarriere begonnen.

Könnten Sie uns noch etwas über die Besetzung von Mehr denn je verraten? Wonach haben Sie gesucht?

Ich habe eine junge Frau gesucht, die hier ist, aber schon woanders. Eine Frau, die man nicht greifen kann. Das macht es für ihren Mann Mathieu so hart. Vicky Krieps verkörpert das. Sie ist stark und fragil zugleich. Das ist fantastisch für diese Figur. Sie hat auch etwas Zeitloses. Vicky kenne ich schon seit Längerem. Wir sind Nachbarinnen, unsere Kinder waren im selben Kindergarten. Sie war es auch, die mir von Gaspard Ulliel erzählt hat. Ich kannte ihn natürlich schon, war ihm aber nie begegnet. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich sofort gemerkt, was für ein sensibler Mensch er war. Ein sehr feinsinniger Mensch.

Letzte Frage: Wie geht es nach Mehr denn je weiter? Was sind ihre nächsten Projekte?

Ich habe dieses Jahr meine erste Romanadaption gedreht. Irgendwann werden wir uns alles erzählen, der erste Roman von Daniela Krien. Das ist eine Amour-fou-Geschichte über eine 18-Jährige und einen 40-jährigen Mann und spielt im ersten Sommer nach der Wende. Da gibt es auch wieder viel Natur, dieses Mal in Thüringen, eine wahnsinnig schöne Gegend, die kaum besiedelt ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Emily Atef wurde am 6. Mai 1973 als Tochter eines Iraners und einer Französin in West-Berlin geboren. Als sie sieben Jahr war, zog ihre Familie in die USA. Mit 13 Jahren lebte sie in Frankreich, wo sie auch ihren Schulabschluss machte. Nach einer kurzen Zeit in England kehrte sie nach Deutschland zurück und studierte Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, wo sie 2005 ihren Abschluss machte. Im selben Jahr erschien ihr erster Langfilm Molly’s Way. Später drehte sie unter anderem das  Drama 3 Tage in Quiberon (2018), welches von einem Interview mit Romy Schneider handelte und mit sieben Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet wurde. Aber auch im Fernsehen ist sie sehr aktiv und inszenierte beispielsweise Tatort: Falscher Hase (2019) und Jackpot (2020). 



(Anzeige)