Spätestens seit seinem Gewinn des Goldenen Leoparden 2016 in Locarno ist der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues vielen Filmfans ein Begriff. In seinem neuen Film Irrlicht (Kinostart 8. Dezember 2022 ) verarbeitet er viele Probleme unserer Zeit wie die Aufarbeitung des Kolonialismus oder den Klimawandel und lässt seine Figuren dabei unter anderem die Rede Greta Thunbergs bei der UN-Klimakonferenz 2019 in Madrid zitieren. Das Szenario dabei ist ein ungewöhnliches. Auf dem Sterbebett im Jahr 2069 erinnert sich König Alfredo an seine Zeit als Feuerwehrmann, seine Liebe zum Wald und für seinen Kollegen Alfonso. Der Film liefert 67 Minuten vollgepackt mit bizarren Einfälle, tollen Choreographien und ganz viel Homoerotik. Wir haben bei der Deutschland-Premiere während des Filmfest München 2022 im Interview mit Rodrigues über die Entstehung und Themen des Films sowie sein Selbstverständnis als Regisseur gesprochen.
Also, ein sterbender Monarch im Jahr 2069, tanzende Feuerwehrleute und verschiedene Wälder anhand von Penisbildern identifizieren. Wie bist du auf die Handlung von Irrlicht gekommen?
Ich glaube, viele Ideen kommen auf eine mysteriöse Art. Aus diesem Grund kann ich gar nicht so einfach sagen, wie ich die einzelnen Ideen bekommen habe. Der erste Impuls kam aber, als ich einen Artikel in einer Boulevardzeitung über einen portugiesischen Prinzen gelesen habe, der Feuerwehrmann werden wollte. Ich fand es sehr interessant, wie die Zeitung diesen Wunsch dargestellt und kommentiert hat, ich einen Film machen wollte, der unter anderem von Selbstbefreiung handelt und davon, wie man sich selbst gegenüber anderen darstellen möchte, quasi eine eigene Mise en Scène von sich macht. Daher fand ich das Szenario passend. All das wollte ich in eine Musical-Komödie einbinden, die in einer fantastischen Welt spielt. Aus all diesen Konzepten und Erfahrungen ist dann irgendwann Irrlicht geworden
Eine zentrale Szene des Films ist der Tanz in der Feuerwache. Wie habt ihr diese realisiert?
Ich habe mit vielen Choreograf*innen gesprochen und dann final mit Madalena Xavier an der Choreographie gearbeitet. Wir haben uns zusammen viele Filme aus dem goldenen Zeitalter Hollywoods angeguckt. Filme mit Fred Astaire und von Vincente Minelli und Jaques Demy, aber auch Musikvideos beispielsweise von Perfume Genius oder Anima von Paul Thomas Anderson. Uns war dabei wichtig, dass ein Paartanz mit unseren beiden Hauptfiguren von der Hauptchoreographie aus wegführt. Anders als der klassische Paartanz haben wir aber nicht einen Mann und eine Frau genommen, sondern zwei Männer. Entsprechend haben wir uns da von klassischen Rollen und Haltungen losgelöst.
Alfredos Wunsch, Feuerwehrmann zu werden, wird von seinen Eltern nur belächelt. Haben wir in der Gesellschaft ein Problem damit, dass handwerkliche Berufe zu oft abgetan und nicht wertgeschätzt werden?
Sicherlich. Seine Eltern denken, so ein Beruf sei seiner gesellschaftlichen Position nicht würdig. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass die anderen Feuerwehrleute Alfredo anfangs auch auslachen, weil sie ihn für einen reichen Schnösel halten. Ich denke, darin spiegelt sich sehr gut ein Klassenunterschied wider. Alfredo wird mit Menschen eines völlig anderen sozialen Hintergrunds konfrontiert und erst das sorgt dafür, dass er seinen inneren Frieden findet. Zu sehr generalisieren möchte ich das aber nicht, immerhin spielt der Film in einer fantastischen Welt, wer weiß, wie das Jahr 2069 wirklich aussehen wird.
Der Ton des Films ändert sich schlagartig zum Fröhlichen, nachdem Alfredo sein Elternhaus verlässt. Fängt dieser innere Frieden da schon an?
Das hat einen großen Anteil dran, aber ich mag es einfach, wenn Filme sich wandeln und überraschen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass man von einem Film gleichgültig zurückgelassen wird. Daher liebe ich es auch, Filme zu hassen oder wenn meine Filme gehasst werden, weil ich dann sehe, dass der Film etwas ausgelöst hat und ich denke, Irrlicht schafft das. Man weiß nie, was als nächstes passiert.
Der Film erhebt seine Stimme unter anderem gegen Klimawandel. Ist Alfredos Entscheidung, Feuerwehrmann zu werden, um Waldbrände zu löschen, aber nicht etwas simpel und reaktionär?
Das kann man so sehen, allerdings denke ich, dass Alfredos Beziehung zu Wäldern auf einer persönlicheren Ebene stattfindet. Sein Vater bringt ihm bei, den Wald zu lieben und ich glaube, das ist es, was ihn bewegt. Waldbrände sind ein sehr tragisches, emotionales Thema, weil oftmals nicht nur Bäume zerstört werden, sondern auch Tiere und Menschen sterben. Außerdem ist Alfredos Entscheidung, der Feuerwehr beizutreten, strenggenommen auch ein sehr royaler Akt, da viele Wälder in Portugal im 13. Jahrhundert gepflanzt wurden und lange Zeit der Krone gehörten. Die Schiffe, die im 15. und 16. Jahrhundert nach Amerika und Indien gefahren sind, wurden aus diesen Hölzern gebaut. Es steckt auch ein gewisser Nationalstolz in den Wäldern und ich denke, in dem Wunsch, die Wälder zu schützen, kann Alfredo seinen Idealen nachkommen, aber trotzdem etwas tun, das vielleicht auch im Interesse seiner Eltern liegt.
Der Film behandelt auch sehr ausgiebig die Folgen des portugiesischen Kolonialreiches. Eine große Präsenz nimmt dabei das Gemälde Die Hochzeitsmaskerade von Jose Conrado Roza ein. Was bedeutet dir dieses Gemälde?
Das Gemälde stammt aus dem 18. Jahrhundert und war ursprünglich unter den Namen Die Zwerge der Königin Marie von Portugal oder auch Die Hochzeit der Negerin Dona Roza bekannt. Nachdem es lange Zeit im Besitz einer portugiesischen Adelsfamilie gewesen ist, wurde 1985 an ein Museum in La Rochelle verkauft und dann in Die Hochzeitsmaskerade umbenannt. Für mich verkörpert dieses Gemälde sehr gut, wofür Kolonialismus steht, welches völlig gestörte Bild die europäischen Menschen von den Menschen aus den Kolonien hatten. Dona Roza, die Frau, die heiratet, war eine enge Vertraute von Königen Marie und hat von dieser auch ihr Hochzeitskleid geschenkt bekommen. Auch die Anordnung der Menschen auf dem Bild ist einem Hochzeitsgemälde der Königin nachempfunden. Man sieht sehr gut, dass viele Menschen in Europa das Gefühl hatten, den Menschen aus den Kolonien etwas Gutes zu tun, indem sie ihnen ihre Kultur aufzwingen, obwohl das natürlich völlig abwegig und arrogant war. Wie wenig wirklicher Respekt da vorhanden war, zeigt sich, wenn man weiß, dass die meisten der Menschen auf dem Gemälde im Zoo der Königin gelebt haben und wurden dort in Gehegen wie Jagdtrophäen ausgestellt.
Findet sich dieses Narrativ des nicht ausschließlich schlechten Kolonialismus auch heute noch in Portugal?
Natürlich hat sich da einiges getan, der Namenswechsel des Bildes zeigt gut, dass wir viele Dinge nicht mehr akzeptabel finden, die früher akzeptabel waren. Allerdings ist die Wahrnehmung und Aufarbeitung des Kolonialismus nicht optimal. Gerade deshalb war es mir wichtig, dass sich mit Alfredo und Alfonso ein weißer und ein schwarzer Mann ineinander verlieben. Ich wollte dieses Narrativ durch Liebe dekonstruieren.
Die Liebesgeschichte im Film ist in ihrer sexuellen Explizitheit definitiv eine besondere. Ist das eine Form von Protest gegen den konventionell eher gering gehaltenen Ausdruck von Sexualität?
Das ist etwas, das mich schon seit meinem ersten Film beschäftigt. Ich habe mich gefragt, warum ich keinen Sex zeige sollte, da es für den Großteil aller Menschen etwas völlig Normales ist. Auch in der Malerei ist der nackte Körper normalisiert. Aber im Film war Nacktheit und Sex durch den Hays Code oder viele Zensurmaßnahmen immer ein Tabuthema und ist es in Teilen auch heute noch. Und diese Tabuisierung möchte ich brechen. Wenn ich drehe, dann behandle ich nackte Schauspieler*innen genauso wie angezogene. Meine beiden Hauptdarsteller Mauro Costa und André Cabral hatten beide vorher keine Filmerfahrung und haben die Rollen trotzdem wunderbar ausgefüllt. Ich denke, der gesellschaftliche Ansatz, aber auch der Ansatz, den ich als Regisseur vermittle, ist dafür entscheidend.
Ist das Feiern von Homosexualität und Queerness durch den Film auch ein Teil davon?
Auf jeden Fall. Ich bin queer und auch meine Filme sind schon immer queer gewesen. Von daher ist das nur natürlich für mich, den Fokus auch in Irrlicht daraufzulegen. Meine Filme sind zwar nicht autobiografisch, aber es fällt mir schwer, über Dinge zu sprechen, denen ich nicht nahe stehe. Als ich To Die Like a Man gemacht habe, wusste ich nicht viel über Travestie und Transsexualität und habe deshalb viele Interviews mit Menschen aus der Community geführt, um einen Einblick zu erhalten und mich in das Thema einzufinden. Für Irrlicht habe ich viel Zeit auf Feuerwachen verbracht, habe mit Feuerwehrleuten gesprochen und sie beim Einsatz verfolgt. Die dokumentarischen Szenen, die während des Abspanns laufen, sind Teil dieser Recherche gewesen.
Auch wenn Irrlicht bis auf den Abspann das komplette Gegenteil ist, hast du Interesse daran, dokumentarisch zu arbeiten?
Ich habe einen Film in der Postproduktion, dessen Dreh aufgrund der Pandemie immer wieder unterbrochen werden musste. Sein Name ist Where Is this Street Now? Und er hat durchaus einen dokumentarischen Ansatz. Er thematisiert die Entstehung des Films Die grünen Jahre, ein Film, der mir sehr viel bedeutet, da er von Paulo Rocha, einem Regisseur, der mich in der Filmschule unterrichtet hat, stammt und in der Gegend spielt, in der ich aufgewachsen bin. Es gibt sogar eine Szene, die direkt vor dem ehemaligen Haus meiner Großeltern, dem Haus, in dem ich jetzt lebe, spielt. Der Film ist aus dem Jahr 1963 und gilt als erster Vertreter des Novo Cinema. Ich habe mich immer gefragt, ob meine Großeltern Paulo Rocha damals beim Dreh gesehen haben, konnte sie das aber nie selbst fragen. Deshalb möchte ich jetzt diese filmische Retrospektive eröffnen und einen Blick zurück auf diesen Film und seine Drehorte werfen.
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