Meine Stunden mit Leo

So richtig aufregend war das Leben von Nancy Stokes (Emma Thompson) bislang nicht. Vor allem sexuell lief da nicht viel. Doch jetzt, da ihr Mann tot ist, will die pensionierte Religionslehrerin endlich einmal spüren, wie das ist, einen Orgasmus zu haben. Sie hat auch schon den passenden Partner, der ihr dabei helfen soll: Leo Grande (Daryl McCormack). Den hat sie online gebucht, nun steht er vor ihr und sieht absolut umwerfend aus. Aber gerade als er loslegen will, kommen Nancy, die sowieso mit sich und ihrem Körper hadert, Zweifel. Aber Leo ist geduldig und einfühlsam, gibt ihr die Möglichkeit, sich erst einmal zu unterhalten – was zum Auftakt wird für zahlreiche weitere Gespräche der beiden …

Zeit für guten Sex!

Filme über Frauen, die im fortgeschrittenen Alter noch einmal ihr Leben überdenken und etwas Neues wagen, hat es in den letzten Jahren sehr viele gegeben. Ob nun Tanz ins Leben oder Britt-Marie war hier, sie alle zeigten auf, dass man nie zu alt ist, um noch einmal einen Schritt nach vorne zu machen und sich selbst neu zu entdecken oder auch zu verwirklichen. Insofern befindet sich Meine Stunden mit Leo, das ebenfalls von einem späten und eigentlich überfälligen Neustart befasst, also in zahlreicher und guter Gesellschaft. Und doch ist der britische Film nur zum Teil mit besagten Werken zu vergleichen. Ein großer Unterschied: Der Sinneswandel geschieht hier nicht aus der Not heraus, sondern ist das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Wo ihre Schicksalsgenossinen erst aufgrund des Betrugs durch den Ehemann etwas Neues zu versuchen, da steht hier eine eigene Erkenntnis und ein eigener Wunsch am Anfang.

Der zweite Unterschied ist, dass es dabei nicht um neue Hobbys geht oder eine andere Lebensaufgabe. Nancy will Sex. Guten Sex. Denn den hatte sie in all den Jahren in ihrer Ehe nicht. Natürlich, auch andere Filme erzählten von Gefühlen und Bedürfnissen. In Book Club etwa reden vier Freundinnen offen über ihre Begierden. Aber das war alles dann doch eher hypothetisch, während es bei Meine Stunden mit Leo tatsächlich zur Sache geht. Da wird nicht nur darüber gesprochen, sondern es kommt tatsächlich zu intimen Momenten zwischen der Protagonistin und ihrem deutlich jüngeren Callboy. Emma Thompson hat auch einige Nacktaufnahmen, das hier ist allgemein ein wichtiger Beitrag zum Thema Body Positivity. Die Aussage des Films: Man muss nicht so durchtrainiert sein wie Leo, um den eigenen Körper zu mögen. Um ihn auch mögen zu dürfen. Dass jeder Körper auf seine Weise schön ist, mag sich nach billigem Ratgeber anhören. Hier wird das jedoch überzeugend vorgelebt.

Einfühlsam, humorvoll und (zu) dramatisch

Regisseurin Sophie Hyde (Animals, 52 Tuesdays) nähert sich dem Thema und den Figuren dabei sehr einfühlsam an. Parallel zu den mit der Zeit zunehmend freizügigen Szenen werden auch in den Gesprächen Schicht für Schicht abgelegt. So erfährt man immer mehr über die Lehrerin, aber auch ihren jungen Callboy. Intimität bedeutet hier mehr als nur Sex. Meine Stunden mit Leo wird dabei aber nicht zu einer Liebesgeschichte, zumindest keine im klassischen Sinn. Vielmehr müssen beide Figuren lernen, sich selbst zu lieben und im Einklang mit sich selbst zu sein. Leider ist der Weg dorthin ein wenig beschwerlich, weil Drehbuchautorin Katy Brand aus irgendeinem Grund meinte, dass der humorvoll-lockere Ton im weiteren Verlauf noch mehr Drama brauchte. Während das Spiel mit Distanz und Nähe und die Frage, wo die eigenen Grenzen sind, durchaus spannend sind, ist eine andere Enthüllung schlicht überflüssig.

Gerade im letzten Drittel gerät die Tragikomödie, die auf dem Sundance Film Festival 2022 Premiere feierte, ein wenig ins Schlingern, auch weil sie sich Konventionen verpflichtet fühlt, die nicht so recht hineinpassen. Aber trotz vereinzelt schwächerer Momente ist Meine Stunden mit Leo ein sehr sehenswerter Film, der von einem starken Schauspielduo getragen wird. Während Emma Thompson (Late Night – Die Show ihres Lebens) wie erwartet meisterhaft die Balance zwischen Neurose und Selbstbewusstsein schafft und ihre Figur zu einem vielschichtigen Menschen werden lässt, ist der irische Schauspieler Daryl McCormack (Bad Sisters) eine echte Entdeckung. Die beiden entwickeln in ihren gemeinsamen Momenten eine Chemie, die geradezu süchtig macht. Das ist auch deshalb wichtig, da der Film fast ausschließlich in einem Hotelzimmer spielt und damit etwas sehr Theaterhaftes an sich hat. Das Bett wird so zu einer Bühne, von der aus eine neue Welt entdeckt wird, groß, schön und aufregend.