Im Kino kann das Tourette-Syndrom lustig sein. Etwa in der charmanten Außenseiter-Komödie Vincent will meer (2010) von Ralf Huettner. Da stößt die Titelfigur in den unpassendsten Momenten Schimpfwörter wie „Votze“ aus, zur Erheiterung des Publikums und zur Beschleunigung der Chaosspirale. Vincent tut das nicht böswillig, er kann nicht anders – wegen seiner Krankheit. Für den Betroffenen ist das keineswegs komisch, und der Schimpförter-Tic ist auch nicht der einzige, nicht einmal der häufigste. Darüber klärt der neue Dokumentarfilm von Thomas Oswald auf. Er legt dar, was Tourette eigentlich ist, worunter die Betroffenen am meisten leiden und welche Therapieversuche es gibt.
Flucht vor den Menschen
„Von der Natur werde ich akzeptiert“, sagt Daniel. Er sitzt an einem See auf der Fahrt nach Lappland. Die Gegend ist menschenleer, keinen stört es, wenn Daniel merkwürdige Laute von sich gibt. Niemand sieht hin, wenn sein Gesicht zuckt. Die Flucht vor den Menschen bringt dem jungen Mann ein Stück Ruhe – und sollte jedem im Publikum zu denken geben. Warum können wir andere Menschen nicht so akzeptieren, wie sie sind, egal ob ihnen ein Arm fehlt, ob sie im Rollstuhl sitzen oder ob sie mit dem Kopf zucken, ohne es zu wollen? Und das, obwohl alle Menschen, auch die ohne äußere Auffälligkeiten, das Bedürfnis haben, in ihrer jeweiligen Besonderheit angenommen zu werden?
Daniel leidet unter dem Tourette-Syndrom, genau wie Marika und Leo. Die drei reisen mit dem Neurologen Alexander Münchau und dem Psychiater Daniel Alvarez-Fischer gen Norden, wo die Seen und die Mücken immer zahlreicher und die Leute immer weniger werden. Es ist der Versuch, Linderung für eine vermutlich vererbte Krankheit zu suchen, unter der sie seit ihrer Kindheit leiden und für die es keine Heilung im gängigen Sinn gibt. Münchau und Alvarez-Fischer hegen die Hoffnung, dass ein Umlenken der Aufmerksamkeit helfen könnte. Also: nicht ständig an Tics denken und daran, wie sie auf Außenstehende wirken. Sondern sich der unberührten Natur zuwenden, zur Ruhe kommen, sich auf etwas anderes konzentrieren. In der Theorie sollen dadurch die Tics nachlassen und ein Erinnerungsraum entstehen, den die „Touretter“ auch nach ihrer Heimkehr immer wieder aufrufen können, um aus stressigen Situationen in die Ruhe zurückzukehren. Ob das funktioniert, wurde noch nie erprobt, die Reise nach Lappland ist ein Experiment.
Gleich zu Beginn räumt Neurologe Münchau mit einem verbreiteten Vorurteil auf. Tourette bedeute nicht dass jemand dauernd „Arsch“ oder ähnliches ruft, das sei weit weniger häufig als ein undefinierbarer Ton. Die Definition laute ganz einfach, dass jeder, der mehrere motorische und vokale Tics hat, die vor dem 18. Lebensjahr anfangen und länger als ein Jahr andauern, an Tourette leide. Wie unterschiedlich die Ausprägungen sein können, lässt sich an den drei Protagonisten beobachten. Daniel gibt laute Töne von sich und zuckt, Marikas Tics sind weit weniger auffällig und Leo wirft in heftigen Zuckungen den Kopf nach hinten oder zur Seite.
Licht und Luft hereinlassen
Thomas Oswalds Dokumentation ist aber keineswegs ein medizinisches Lehrbuch in visueller Form. Der Film beginnt betont sachlich, mit Besuchen bei verschiedenen Experten, mit Gesprächen vor schwarzem Hintergrund, mit Fahrten in beengten Bahnen und überhaupt mit der typischen Hektik urbanen Lebens. Durch den Beginn des Roadmovies drängt anschließend auch die Optik ins Freie. Die Kamera steigt in die Lüfte, die Einstellungen lassen Licht und Luft herein. Die Ruhe, wohltuend für die Betroffenen, überträgt sich in den Zuschauerraum. Etwa wenn Daniel, Marika und Leo zu Aufmerksamkeitsübungen angehalten werden: Der meditative Flow spiegelt sich im Glänzen eines Sees, im Licht der nie untergehenden Sonne des nordischen Sommers, im Grün der Kiefernwälder.
Wissenschaftler würden ein Fazit des Experiments erwarten. Aber der Film verkneift sich das. Er lässt das Publikum entdecken, welche Effekte die Reise auf die drei Touretter hat. Bei wem sie stärker wirkt, bei wem weniger gut und welche Erleichterung insgesamt die fehlende Bewertung von außen bringt. Dabei ist nicht nur etwas über eine vergleichsweise seltene Krankheit zu lernen, sondern auch über das eigene Leben. Wer zu sehr auf seinen inneren Zustand fokussiert und praktisch nie im Außen lebt, gerät in einen Teufelskreis zunehmender Verspannung. Wer hat noch nicht erlebt, dass das krampfhafte Vermeidenwollen eines Versprechers genau diesen erst produziert?
OT: „Mit Tourette nach Lappland“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Thomas Oswald
Drehbuch: Thomas Oswald, Hans-Jörg Kapp
Musik: Marcus Herzog
Kamera: Thomas Oswald, Marvin Hesse
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)