Timothy Olson Interview

Timothy Olson [Interview]

Für viele ist Laufen nur eine sportliche Betätigung für zwischendurch, um sich irgendwie fit zu halten. Andere machen eine Karriere daraus, nehmen an Wettbewerben teil, bekommen Preise. Doch für Timothy Olson ist es mehr als das: Für den US-Amerikaner wurde das Laufen in der Natur zu einem Lebensinhalt, der ihn nach vielen schwierigen Jahren wieder auf die richtige Spur brachte. Damit kam er sehr weit: Er absolvierte 2021 den berühmten Pacific Crest Trail, der insgesamt 2653 Meilen umfasst, in einer Rekordzeit von 51 Tagen, 16 Stunden und 55 Minuten. Der dokumentarische Kurzfilm The Mirage begleitet ihn während dieses außergewöhnlichen Triumphes und zeigt ihn auch von seiner privaten Seite. Wir haben den Ausnahmeläufer während der European Outdoor Film Tour 2022 getroffen, die noch bis Ende Jahr durch Deutschland reist und eine Reihe weiterer spannender Kurzfilme zum Thema Outdoor Sport zeigt.

Nachdem du einen Weltrekord in der Kategorie Ultramarathon erreicht hast, wie hast du das geschafft oder wie ist es dazu gekommen?

Ich habe mich vor langer Zeit einfach regelrecht in diesen Sport verliebt. Das hat seit dem ersten Tag eine tiefere Verbundenheit zur Natur in mir bewirkt. Ich sehe den Wanderweg inzwischen auch als Teil des gesamten Lebenswegs an, wie er so vor mir liegt. Ich war aber auch sehr glücklich, diese Wege überhaupt gefunden zu haben. In Oregon bin ich dann irgendwann auf den PSC, den Pacific Crest Trail, gestoßen, der sich über 4000 km erstreckt. Ich habe da viel Zeit auf den unterschiedlichen Etappen verbracht und am Anfang war es nicht einmal eine direkte Entscheidung, mir den Weltrekord für den Ultramarathon auf der Strecke zu holen. Nach und nach hat sich dann eine stärkere Beziehung zu dieser Strecke entwickelt und erst dann kamen diese Gedanken über 100-Meilen Rennen und schließlich den Ultralauf auf. Das ist dann so eine Zeit, in der man sehr viel dazulernt, auch über sich selbst und den inneren Kern, der in einem schlummert. Generell kann ich sagen: Das Laufen hilft mir mit den Höhen und Tiefen im Leben besser umzugehen. Es befreit einfach meinen Geist, auch in Hinblick auf die selbstzerstörerischen Tendenzen in meiner Vergangenheit. Das Rennen ist, so könnte man das sagen, ein Reinigungsprozess für mich. Durch all die Erfahrungen, die ich beim Rennen gemacht habe, fand ich besser zu mir selbst und das ist das Tolle, was mich jeden Tag motiviert. Einstein sagte in der Hinsicht ja auch einmal einen schönen Spruch: imagination is more powerful than knowledge (Vorstellungskraft ist machtvoller als Wissen). Ohne Vorstellungskraft hätte ich die Rekorde, die ich jetzt erreicht habe, nie geschafft.

Wann fing das mit dem Rennsport bei dir generell an?

Bereits ziemlich früh in meiner Kindheit als ich in einer ziemlich winzigen Kleinstadt mit 900 Einwohnern in Wisconsin aufwuchs. Damals gab es mit dem Basketball auch noch eine weitere Leidenschaft – und das bei wirklich jedem Wetter. In der High-School hat sich das Rennen dann intensiviert, weil das natürlich auch Vorteile beim Basketball brachte. Ab einem gewissen Punkt verlagerte sich dann mein Fokus auf das Laufen, weil es mir nicht nur unglaublich Spaß bereitet, sondern mich dann auch zu meiner besseren Hälfte führte, die damals schon Marathons lief. Letztendlich haben wir dann geheiratet und sind nach Oregon gezogen, alles Weitere ist Geschichte.

Rennt deine Frau auch noch?

Ja, aber nicht mehr so viel wie früher. Bei ihr ist es nur ein Hobby. Bei mir sieht das ja etwas anders aus (lacht).

Wie bekommst du deine Familie und deine Leidenschaft unter einen Hut?

Bei uns läuft sehr viel über Unterstützung. Es gibt ja auch die Sprinter, die alles alleine machen, von der Organisation bis hin zum Einkaufen etc. Bei uns gleicht es viel mehr dem peer-to-peer Prinzip. Von daher bekomme ich beide Sachen wunderbar unter einem Hut, auch wenn es natürlich Tage gibt, an denen ich komplett alleine unterwegs sind. Aber irgendwann holen sie dann mit dem Transporter auf und dann laufen wir ein paar Meilen zusammen. Dadurch habe ich die Kinder auch schon mit dem Laufen angesteckt (lacht).

Timothy Olson Interview
„The Mirage“ über den Ausnahmeläufer Timothy Olson ist einer von mehreren dokumentarischen Kurzfilmen, die aktuell auf der European Outdoor Film Tour gezeigt werden.

Ich schätze, dass es schonmal Momente gab, an denen du nicht mehr weiterlaufen wolltest. Wo nimmst du all die Motivation zum Weitermachen her?

Die Natur ist sehr gut darin, mich in Demut zu versetzen. Wenn ich jetzt an die schlechteren Tage in meiner Vergangenheit zurückdenke, bin ich unglaublich dankbar für diese Erkenntnis. Durch diesen Reinigungs- oder Reifeprozess keinen Schmerz mehr zu verspüren, ist das Beste, was mir jemals passiert ist. Die große Lektion, die ich gelernt habe, lautet folglich: Jeder Schritt bewirkt etwas, besonders wenn man leidet und seine eigenen Laster im Leben betrachtet. Dazu kommen die ganzen Menschen, die mich bei diesem Abenteuer begleiten und mit denen ich all diese tollen Momente teile. Das, was ich tue, fühlt sich einfach richtig an. Ich kann also nur an jeden appellieren: Wir sollten alle unseren Herzen und Leidenschaften folgen und die unglaubliche Kraft, die in jedem steckt, begrüßen und nutzen.

Was herausfordernder, die physische oder mentale Komponente?

Für beide Dinge war es eine regelrechte Achterbahn. Physisch muss ich an die Beinkrämpfe zurückdenken, die mich manchmal Tag für Tag heimgesucht haben. Die Psyche reagiert da natürlich darauf und man bekommt schon fast den Eindruck, dass der Körper dich anschreit, so nach dem Motto: Hör auf damit! (lacht). Wenn beides zusammenkam, dann waren das schon schlimme Tage. Aber man redet sich dann ein, dass man den Schmerz schon aushalten kann. An dieser Stelle kommt dann der Faktor Meditation ins Spiel. Ohne regelmäßiges Meditieren hätte ich das nie geschafft, da man bei dieser Routine erst einmal lernt, wo diese ganze Energie in einem herkommt. Vor dem Hintergrund würde ich bei dieser Frage das Letztere nehmen.

Werfen wir einen Blick auf die ganz langen Strecken, die du bewältigt hast. Wie bereitet man sich auf so etwas Großes vor?

Bei mir ist nicht so, wie man das von anderen Sportlern kennt, die jeden Tag trainieren. Am Anfang trainiert man wochenweise, um erst einmal herauszufinden, wie viel Kraft in einem steckt und wie sehr man die Reserven pushen kann. Da kommen dann schonmal 20 Meilen (ca. 32 Kilometer) pro Tag zusammen. Vor dem Marathon natürlich noch wesentlich mehr. Aber natürlich stecken da Jahre, wenn nicht sogar ein Jahrzehnt, an Arbeit und Vorbereitung dahinter. In Trainingsblöcken verbringe ich dann entweder sehr viel Zeit auf den Wanderwegen oder versuche mich mental darauf vorzubereiten. Ich glaube ehrlich gesagt aber nicht, dass ein Sommer an Vorbereitung ausreicht, selbst wenn man das Hochleistungstraining jeden Tag durchziehen würde. Glaub mir, Meditation – und das über Jahre – ist bei so einer Strecke viel wichtiger.

Nachdem du einen Weltrekord erreicht hast, was kommt als Nächstes?

Momentan verbringe ich erstmal mehr Zeit mit meiner Familie und speziell meiner Tochter. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, wohin die Reise als Nächstes hingehen wird. Den nächsten Rekord angehen, nur wegen des Egos, kommt aber definitiv nicht infrage. Aber es gibt genug weitere Weitwanderwege, die mich reizen. Wenn die mein Herz genauso treffen, wie der PCT, dann schätze ich, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis die nächsten Großprojekte angegangen werden.

Wenn das Alter irgendwann einmal nicht mehr mitspielt, was dann? Hast du schon darüber nachgedacht, wie dein Leben irgendwann aussehen wird, wenn es das Laufen nicht mehr gibt?

Ja, natürlich. Dann wird das eben alles etwas langsamer angegangen. Hauptsache ich bin in der Natur, habe dank Meditation einen freien Kopf und die Familie ist dabei. Was kann man mehr wollen?

Vielen Dank für das Gespräch!



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