Frankreich im 19. Jahrhundert: Der junge Lucien de Rubempré (Benjamin Voisin) träumt davon, als Dichter groß herauszukommen. Leider wohnt er jedoch in der Provinz, wo kaum jemand etwas mit seinen Texten anfangen kann. Und so beschließt er, seiner verheirateten und deutlich älteren Geliebten Louise de Bargeton (Cécile de France) nach Paris zu folgen, wo er sich endlich die Freiheit erhofft, die ihm in der Heimat versagt bleibt. Während sein Durchbruch als Poet noch auf sich warten lässt, lernt er Étienne Lousteau (Vincent Lacoste) kennen, der für eine auflagenstarke Zeitung schreibt und ihn sowohl in die Welt des Journalismus wie auch der des Theaters einführt. Dabei macht er die Bekanntschaft des konkurrierenden Autors Raoul Nathan (Xavier Dolan), aber auch der Boulevard-Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), die ihm bald den Kopf verdreht …
Auf- und Abstieg eines Autors
In Filmen werden sie immer wieder mal gern erzählt: Geschichten um Künstler und Künstlerinnen, die sich ihren Weg an die Spitze kämpfen und dann die Schattenseiten des Ruhms kennenlernen. Vor allem im Musikbereich finden sich eine Reihe von Beispielen, etwa Breaking Glass über den Ausverkauf einer Punksängerin. Auch die Schauspielerei bietet sich für solche Dramen an. Erfolg ist dabei immer vergänglich, ebenso die Loyalität der Menschen. Im einen Moment noch bewundert, folgt der tiefe Absturz, die Leute laufen einem scharenweise davon. Im Grunde ist auch Verlorene Illusionen eine solche Geschichte, wenn wir hier einem ambitionierten Autor folgen, der in der Hauptstadt an Macht, Reichtum und Popularität gewinnt, dabei jedoch übersieht, wie sehr sein Erfolg von anderen abhängt. So wie andere ihn groß gemacht haben, können sie ihn auch wieder zurechtstutzen.
Das ist dann auch einer der Punkte, der dieses Drama von thematisch ähnlichen unterscheidet. Wo meistens die Hauptfigur für den eigenen Abstieg verantwortlich ist und einfach mit dem Ruhm nicht zurechtkommt, da beschreibt Verlorene Illusionen das künstlerische und publizistische Milieu als ein Haifischbecken. Da wird aktiv hinter den Kulissen intrigiert, Komplotte geschmiedet. Und dabei die Hand aufgehalten: Immer wieder wird demonstriert, dass Kritiken von Büchern oder Theaterstücken nicht das Ergebnis einer eigenen fundierten Meinung sind. Stattdessen wurde ein einträgliches Geschäft daraus gemacht, sich für eine Meinung bezahlen zu lassen. Ob positiv oder negativ, hängt davon ab, wer mehr Geld springen lässt. Mal wird das eigene Werk bejubelt, mal das der Konkurrenz verrissen.
Bissige und erstaunlich aktuelle Gesellschaftskritik
Honoré de Balzac, auf dessen zwischen 1837 und 1843 veröffentlichten Geschichte der Film basiert, schuf mit seiner Vorlage eine bissige Gesellschaftskritik, die selbst kein Blatt vor den Mund nahm. Dabei kommt wirklich niemand gut weg, ob Adel, Zeitungsverleger oder Künstler, an moralischen Überlegungen ist niemand interessiert. Nur dann und wann schimmert mal so etwas wie Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft durch. Aber das hält nicht unbedingt lang, wird im Zweifelsfall auch bestraft. So auch bei Lucien selbst. Verlorene Illusionen erzählt nicht allein von einem Höhenflug mit Absturzgarantie, sondern auch wie ein junger Idealist nach und nach immer mehr korrumpiert wird. Er mischt selbst in dem Geschäft mit, zeigt nicht nur Talent fürs Schreiben, sondern auch für die Manipulationen und Erpressungen und wird dabei zum Opfer des eigenen Erfolgs. Denn der basiert darauf, dass er jede Menge Leuten auf die Füße tritt.
Der Ton schwankt dabei zwischen komisch und bitter. In der einen Szene darf das Publikum noch über die dreisten Methoden lachen, nur um in der nächsten zu sehen, welche Auswirkungen diese Machenschaften haben können. Dabei ist der Film trotz seiner rund 180 Jahre alten Geschichte erstaunlich aktuell. Regisseur und Co-Autor Xavier Giannoli (Madame Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne, Die Erscheinung) zieht bei seiner Adaption Parallelen zur heutigen Gesellschaft. Gerade die Art und Weise, wie über Menschen und Sachverhalte mehr oder weniger alles gesagt werden kann, ohne dass dies in irgendeiner Form mit der Realität zu tun haben muss, kommt einem erschreckend bekannt vor. Fake News? Trollfarmen? Gab es früher schon, sie waren nur anders organisiert.
Erlesen ausgestattet und besetzt
Verbunden wird dies mit einem erlesenen Dekor, das sich vor anderen Historiendramen nicht verstecken muss. Außerdem punktet der Film, der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig 2021 Premiere feierte, mit seinem Ensemble. Neben einigen etablierten Größen des französischsprachigen Kinos wie Cécile de France, Vincent Lacoste und Gérard Depardieu überzeugen auch die neuen Gesichter. Im Mittelpunkt steht dabei natürlich Benjamin Voisin (Sommer 85, En roue libre) mit einer Mischung aus rehäugig-poetischer Naivität und abgebrühtem Genussmenschen, der Gefallen an seiner destruktiven Arbeit findet. Für diese kollektive Leistung gab es bei der César-Verleihung 2022 gleich 15 Nominierungen, womit Verlorene Illusionen einen neuen Rekord beim wichtigsten Filmpreis Frankreichs aufstellte.
OT: „Illusions perdues“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Xavier Giannoli, Jacques Fieschi
Vorlage: Honoré de Balzac
Kamera: Christophe Beaucarne
Besetzung: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Jeanne Balibar, Gérard Depardieu, André Marcon, Louis-Do de Lencquesaing, Jean-François Stévenin
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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César | 2022 | Bester Film | Sieg | |
Beste Regie | Xavier Giannoli | Nominiert | ||
Bester Nebendarsteller | Vincent Lacoste | Sieg | ||
Bester Nebendarsteller | Xavier Dolan | Nominiert | ||
Beste Nebendarstellerin | Cécile de France | Nominiert | ||
Beste Nebendarstellerin | Jeanne Balibar | Nominiert | ||
Bester Nachwuchsdarsteller | Benjamin Voisin | Sieg | ||
Beste Nachwuchsdarstellerin | Salomé Dewaels | Nominiert | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Xavier Giannoli, Jacques Fieschi | Sieg | ||
Beste Kamera | Christophe Beaucarne | Sieg | ||
Beste Kostüme | Pierre-Jean Larroque | Sieg | ||
Bestes Szenenbild | Riton Dupire-Clément | Sieg | ||
Bester Ton | François Musy, Renaud Musy, Didier Lozahic | Nominiert | ||
Bester Schnitt | Cyril Nakache | Nominiert | ||
Beste Spezialeffekte | Arnaud Fouquet, Julien Meesters | Nominiert | ||
Goya | 2023 | Bester europäischer Film | Nominiert | |
Prix Lumières | 2022 | Bester Film | Nominiert | |
Beste Regie | Xavier Giannoli | Nominiert | ||
Bester Hauptdarsteller | Benjamin Voisin | Nominiert | ||
Bestes Drehbuch | Xavier Giannoli | Sieg | ||
Beste Kamera | Christophe Beaucarne | Nominiert | ||
Venedig | 2021 | Goldener Löwe | Nominiert |
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