Luise (Luna Wedler) lebt bei ihrer Großmutter Selma (Corinna Harfouch) in einem kleinen beschaulichen Dorf im Westerwald. Es ist ein schönes, behütetes Leben, wenn sie nicht gerade irgendwelche Schreckensvisionen hat, ein Überbleibsel ihrer Kindheit. Auch Selma hat Visionen: Wann immer sie ein Okapi sieht, muss jemand aus dem Ort sterben. Dabei möchte Luise auf niemanden verzichten. Nicht auf den Optiker (Karl Markovics), der seit Jahren heimlich in Selma verliebt ist, oder Marlies (Rosalie Thomass), die andauernd schlecht gelaunt ist, oder Palm (Peter Schneider), der sein Leben und seine Erinnerungen wegtrinkt. Und auch nicht auf den jungen Buddhisten Frederik (Benjamin Radjaipour), der eines Tages plötzlich vor ihr steht und die weite Welt sucht …
Zwischen Massenunterhaltung und Sonderbarkeit
Als Aron Lehmann vor rund zehn Jahren das erste Mal in einem größeren Maße auf sich aufmerksam machte, kündigte sich damit eine der interessantesten deutschen Stimmen an. Mit Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel zeigte er, dass es Alternativen abseits des hiesigen Kinomainstreams gab. Mit der Zeit näherte er sich diesem dann aber doch an, mit wechselnden Erfolgen. Während etwa Das schönste Mädchen der Welt eine charmante und zum Teil originelle Variation von dem Liebesflüsterer Cyrano de Bergerac darstellte, war seine Frauensause Jagdsaison vor einigen Monaten eine schockierende Verschwendung von Talent und Zeit. Mit Was man von hier aus sehen kann kehrt er nun wieder auf die Erfolgsspur zurück, wenn er einen Mittelweg aus Massenunterhaltung und Sonderbarkeit sucht.
Das hat er mit Mariana Leky gemeinsam. Ihr gleichnamiger Roman schaffte es 2017 auf die Bestsellerlisten, indem sie die Geschichten skurriler Figure mit jeder Menge Herz und Poesie verband. Als Film ist das ein wenig schwieriger zu erreichen, wenn vieles per Bild erzählt wird und nicht durch verbale Beschreibungen. Lehmann machte das Beste aus der Situation, löste einiges durch Voice-overs. Gerade zu Beginn ist Was man von hier aus sehen kann in der Hinsicht sehr aktiv, gleicht mehr einer Lesestunde als einem Film. Aber das muss ja nicht verkehrt sein, da diese Einführungen von schönen Aufnahmen begleitet werden, bei denen man oft auf die Pausetaste drücken möchte. Schrullig und sympathisch ist das, was wir hier zu sehen bekommen. Das Dorf wird zu einem märchenhaften Ort, in dem alle irgendwelche Macken und Eigenheiten haben.
Ein Film wie eine warme Umarmung
Diese lieblichen Provinzschrullen wirken eine Zeit lang zumindest wie die deutsche Antwort auf Die fabelhafte Welt der Amélie, zumal auch Luise versucht, anderen Leuten etwas Gutes zu tun. Stärker aber als bei dem französischen Kultfilm erzählt Lehmann von einem jungen Menschen, der selbst auf der Suche ist. So ist in Was man von hier aus sehen kann die Protagonistin in einem eigenen kleinen Kokon, in dem sich die Leute umeinander kümmern, in dem sie gleichzeitig aber auch feststecken. Ob es Palm ist, der nur noch in seinen Flaschen lebt, Marlies, die nicht mehr leben möchte, oder der Optiker, dessen Stimme immer mittendrin verstummt, wenn er etwas Wichtiges sagen möchte – hinter der beschaulichen Idylle warten zahlreiche traurige Ereignisse, denen die Figuren nicht entkommen können oder wollen. Erst auf der Zielgeraden kommt Bewegung in diese Rituale, zeigen sich unvermittelt neue Wege auf, durch den fremden Frederik, aber auch eine andere Wendung.
Dabei gelingt es Lehmann sehr schön, diese unterschiedlichen Facetten zusammenzubringen: das Wohlige und das Traurige, den Alltag und die Schrullen, den Anfang und das Ende. So wird es nicht wenige geben, die in den letzten Momenten von Was man von hier aus sehen kann schluchzen werden, ohne genau sagen zu können, ob dies nun aus Schmerz oder Glück heraus geschieht. Der Film nähert sich behutsam einem schwierigen Thema an, spendet Trost, ist wie eine große warme Umarmung. Wer zum Jahresausklang noch etwas braucht, das lebensbejahend ist, ohne sich dabei dem Kitsch zu ergeben, der ist hier an einer guten Adresse. Inszenatorisch und schauspielerisch greift da das Eine ins Andere und wird trotz der zahlreichen Ecken zu einer rundum runden Sache, nach der man wieder an alles glauben mag. An den Zusammenhalt der Menschen. An prophetische Okapis. Und an eine Liebe, die keine Worte braucht.
OT: „Was man von hier aus sehen kann“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Aron Lehmann
Drehbuch: Aron Lehmann
Vorlage: Mariana Leky
Musik: Boris Bojadzhiev
Kamera: Christian Rein
Besetzung: Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics, Rosalie Thomass, Benjamin Radjaipour, Hansi Jochmann, Peter Schneider, Ava Petsch, Cosmo Taut, Katja Studt
Wer nach dem Film noch mehr erfahren möchte: Wir haben Hauptdarstellerin Luna Wedler zum Interview getroffen und uns mit ihr über Was man von hier aus sehen kann unterhalten.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Deutscher Filmpreis | 2023 | Bester Nebendarsteller | Karl Markovics | Nominiert |
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