Auf der Suche nach Fritz Kann
© Real Fiction

Auf der Suche nach Fritz Kann

„Auf der Suche nach Fritz Kann“ // Deutschland-Start: 12. Januar 2023 (Kino)

Inhalt / Kritik

Suchende Hände verschwinden in der Dunkelheit eines Koffers. Welche Erinnerungen mögen sich darin befinden? In dem Dokumentarfilm des investigativen Filmemachers Marcel Kolvenbach, der 2022 auf dem Kinofest Lünen mit dem Publikumspreis „Lüdia“ ausgezeichnet wurde, machen wir uns auf die Suche nach Fritz Kann, dem ersten Mann seiner Großmutter. Es ist eine Suche, die vor 20 Jahren begonnen hat.

„Doch außer seinem Namen war nichts von Fritz Kann geblieben. Der blinde Fleck der Familiengeschichte“, heißt es im Film. Doch wir bekommen einen Faden der von den Nationalsozialisten durchtrennten Geschichte zu fassen und folgen ihm durch einen Dschungel an alten Dokumenten. Der Faden führt in ein Museum und auf das Gelände eines ehemaligen Schachthofs in Düsseldorf, auf dem damals jüdische Menschen zusammengetrieben und in die Vernichtungslager im Osten abgeschoben wurden. Jetzt wird dort ein Campus gebaut. Wir folgen dem Faden. Es ist eine Reise nach Polen, Argentinien und Ost-Berlin. Unterwegs begegnen wir Menschen und hören ihre eindringlichen Geschichten.

Der Einstieg in den Film ist visuell spannend gestaltet: Wie Erinnerungen blitzen Bilder auf, die man vielleicht nicht direkt greifen oder in einen Kontext setzen kann, beispielsweise sehen wir alte Fernseher auf Erdhügeln wie verstreute Notizen. Die Erzählerstimme passt dabei perfekt und erweckt ein Gefühl von „Jetzt beginnt eine Reise.“

Suche

Der Fokus liegt auf der Suche nach einem Mann. Aber es ist nicht nur die Suche nach Fritz Kann, der wir hier folgen können. Es ist eine Suche nach der Wahrheit. Zeitzeugen erzählen von ihren persönlichen Erlebnissen, Geschichten, die an die Nieren gehen. Eine Zeitlang sehen wir eine junge Museumsbesucherin, wodurch der Zuschauer sich nochmal neu einordnen kann. Wir nehmen (zumindest für eine kurze Zeit) die Perspektive eines Besuchers ein, ein Wort, das sich auch vom Verb „suchen“ ableiten lässt. In einem Museum sind wir auch Suchende und unser Blick gleitet über die alten Fotografien und die Daten, von wann bis wann jemand gelebt hat.

Das Thema der Suche ist aber noch weitläufiger als das. Es ist auch die Suche nach Begegnungen, die Suche nach der eigenen Identität und nicht zuletzt die Suche nach einem Ort, an dem man trauern und Abschied nehmen kann. Ein interessanter Moment ist außerdem, wenn der Regisseur uns aus dem Entstehungsprozess heraus anspricht: „[…] Ich sitze schon im finalen Schnitt, plötzlich eine neue Spur.“ Die Suche nimmt neue Fahrt auf.

Zeit und Erinnerungen

Marcel Kolvenbach hat mit Auf der Suche nach Fritz Kann keinen 0815-Dokumentarfilm geschaffen. Der Zuschauer ist ebenso herausgefordert, sich auf eine Suche zu machen, sich z.B. den Kontext der Bilder, etwa eine gelbe Wand, auf der „may be“ steht und über der rote Farbe wie Blut gelaufen ist, oder die Inszenierung einer Familie in einem strahlenden Raum zu erarbeiten. Dabei sind diese schauspielerischen Einschübe so eingesetzt, dass sie den restlichen Film nicht etwa dominieren, sondern vielmehr wie eine interessante visuelle Abwechslung erscheinen.

Eine Faust öffnet sich und Sand rinnt herab. Keine Frage, hier haben wir es ganz klar mit dem Sand der Zeit zu tun. Oder steht der Sand doch für verrinnende Erinnerungen? Oder für beides? Oder ist es der Sand aus Marokko oder von fernen exotischen Küsten, von denen in alten Schreiben die Rede ist?

Wir sehen Briefe, Schwarz-Weiß-Fotografien und Postkarten. Ein Gefühl der Zeitlosigkeit stellt sich ein. „Seine Bilder werden meine Bilder“, erklärt die Off-Stimme und nach dem nächsten Schnitt befindet sich der Zuschauer in Marokko. Es ist ein Eintauchen in die Erinnerung und formal damit gleichzeitig eine (zumindest scheinbare) Aufhebung der Zeitlosigkeit dieser alten Dokumente. Die Kamera steht dabei unbeweglich auf dem Boden wie der Koffer, der immer mal wieder auftaucht und dem Film eine zusätzliche Struktur verleiht. Der Bildausschnitt könnte aber auch an die vordere Seite einer Postkarte erinnern, in der nun Bewegung herrscht. So ist es zwar ein Lebendig-machen der Erinnerung, aber doch nur ein Beobachten, kein direktes Interagieren. Damit zeigt Marcel Kolvenbach gleichzeitig den starren Charakter der Vergangenheit, in die wir nicht mehr eingreifen können.

Zwischen Museumsbildern und Archivaufnahmen: Zeitzeugen und Verwandte erzählen ihre Geschichten. Wir sehen die Menschen dabei neben Interviewsituationen, teilweise in einem Röhrenfernseher sprechen. Das machte es nicht nur visuell abwechslungsreich, es fokussiert auch die Aufmerksamkeit des Zuschauers und verstärkt den Eindruck von „Hier spricht jemand aus der Vergangenheit zu uns, ein Zeuge seiner Zeit.“

Am Ende bleiben besonders die Geschichten der Menschen im Gedächtnis und der hohe Wert der Erinnerung. Denn aus der Erinnerung können, sollten oder müssen wir Erkenntnisse (auch jene, die offensichtlich erscheinen) ziehen, wie etwa zu lernen, menschlicher miteinander umzugehen.

Credits

OT: „Auf der Suche nach Fritz Kann“
Land: Deutschland, Polen, Argentinien
Jahr: 2022
Regie: Marcel Kolvenbach
Buch: Marcel Kolvenbach
Musik: Cassis B. Staudt, Wolfram Burgtorf, Alicia Mirembe, Tendo Lennell
Kamera: Marcel Kolvenbach, Katja Rivas Pinzón, Rainer Friedrich, Alexandra Yudina, Sugata Tyler, Lars Elliger

Bilder

Trailer

Kaufen / Streamen

Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.




(Anzeige)

Auf der Suche nach Fritz Kann
fazit
„Auf der Suche nach Fritz Kann“ ist ein anspruchsvoller Dokumentarfilm, in dem Marcel Kolvenbach den Spuren des ersten Mannes seiner Großmutter folgt, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Der Film ist visuell eindringlich gestaltet, lässt Nachkommen, Zeitzeugen und Historiker zu Wort kommen und versucht die Lücken einer alten Familiengeschichte zu füllen.
Leserwertung1 Bewertung
7.5