Für seine Erfolgsdokumentation Makala verschlug es den Regisseur Emmanuel Gras in die Demokratische Republik Kongo, um das harte Leben eines kongolesischen Arbeiters festzuhalten. In seinem neusten Dokumentarfilm bleibt er seiner gesellschaftskritischen Linie treu. Diesmal nimmt er uns mit nach Frankreich, in den kleinen Ort Chartres.
Über einen Zeitraum von sechs Monaten ist er in die Welt der Gelbwesten eingetaucht und hat dabei selbst die Kameraarbeit übernommen. Eine nicht immer ganz ungefährliche Angelegenheit, wenn es mitten in die Aufstände geht. Dabei beobachtet er Versammlungen und Protestaktionen. Was will die Gelbwesten-Bewegung? Wie will sie das erreichen? Er geht außerdem der Frage nach, wer die Menschen hinter der Revolution sind. Welche Geschichten haben sie zu erzählen? Warum sind sie wütend und rebellieren?
Auf dem Laufband der Revolution
Bereits in den ersten Minuten erhält das Publikum Einblicke in die Motivation und Ziele der Gelbwesten. Der geplante Anstieg der Spritpreise hat ein Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen gebracht. Mit dem Gefühl vom Staat und von Präsident Macron ungerecht behandelt worden zu sein, planen sie ihre Aktionen gegen das kapitalistische System. Schlagworte fallen dabei wie Überschriften zu komplexen Themen, die zwar anklingen, aber nicht ausformuliert werden. Wie die Bewegung sich und ihre Proteste organisiert wird anhand von Beispielen gezeigt. Man trifft sich etwa zu Hause oder in einer Sandwicherie, es gibt Sprecher und Koordinatoren.
Der Dokumentarfilm nimmt uns mit, wenn die Gelbwesten die Mautstellen öffnen, sich beratschlagen und in Paris protestieren. Mal sind wir bei den Prozessen der Revolution reine Beobachter. Hautnah erleben wir Wohnzimmergespräche – welcher Slogan passt am besten auf das Protestplakat? –, stehen bei teils hitzigen Streitigkeiten daneben oder begleiten zwei Revolutionäre bei einem Baumarktbesuch. Mal verlassen wir die passive Zuschauerrolle und befinden uns mitten in einem Protestzug, während laute Rufe und Rauch die Straßenluft erfüllen. Man zuckt fast zusammen, wenn die Kamera von einem Wurfgeschoss getroffen wird. Die Bilder, die bei den Massenprotesten entstehen, haben etwas schockierend Eindrucksvolles.
Ein anderes Mal lenkt Emmanuel Gras unsere Aufmerksamkeit auf die Gesichter der Demonstranten und wir hören uns ihre Schicksale an. Durch die Nahaufnahmen sehen wir jede Sorgenfalte und jede Träne. Dabei leuchtet auch das Thema der Scham vor der Armut auf. Die Gelbwesten stehen für manche Demonstranten auch dafür, dass sie erkannt haben, nicht alleine zu sein und sich nicht schämen zu müssen. Die Geschichten berühren und erschüttern.
Streitgespräche, die den Revolutionären mehr Kontur hätte verleihen können, kommen nur selten vor. Der Besitzer eines Baumarkts übt unter anderem Kritik an dem Vandalismus, ein längerer Dialog bleibt hier leider aus. Damit schafft Emmanuel Gras aber auch Raum für Diskussionen. Ein spannender Moment in diesem Zusammenhang, der leider zu schnell vorbei war, war das Wohnzimmergespräch, bei dem es darum ging, zu hinterfragen, was sie mit einer Lohnerhöhung anfangen würden. Würde man mehr Geld sinnvoll nutzen oder nur wieder stärker an dem System antizipieren, das man kritisiert?
Hierzu könnte man ein wiederkehrendes Bild in dem Film – Menschen auf einem Laufband – fast wie einen, womöglich ungewollten, Kommentar des Regisseurs zu der Situation lesen. Eine Revolution auf dem Laufband: Die Arbeit ist kräftezehrend, und es ist nicht immer klar, ob man an einem Ziel ankommt. Diese kafkaesken Züge werden auch in den Gesprächen mit den vier Protagonisten (besonders bei Allan) deutlich.
Ein lebendiger Organismus
Was den Dokumentarfilm unteranderem spannend macht, ist seine historische bzw. politische Brisanz. In 100 Jahren könnte der Film im Geschichtsunterricht gezeigt werden, während über die französischen Präsidentschaftswahlen oder das Wesen einer Revolution diskutiert wird. Benoît begreift die Bewegung als Organismus, der sich weiterentwickelt und der von niemandem kontrolliert wird. Dieses innere Chaos wird zum Beispiel durch die Ausschreitungen und den Vandalismus untermalt.
Anhand von angerissenen Aspekten – die schlechte Kommunikation innerhalb der Bewegung, die Gewaltakte während der Proteste –, wird zudem deutlich, dass dieses Portrait nur einen Ausschnitt der Bewegung in den Fokus rückt. Damit lässt Emmanuel Gras wieder Raum für Fragen wie: Gibt es überhaupt „die Gelbwesten“? Denn auch jene, die beispielsweise Zerstörungen auf den Straßen anrichten, und dabei gelbe Westen tragen, prägen das Außenbild der Gelbwestenbewegung mit.
Das Außenbild ist ein gutes Stichwort. Der Umgang mit den Medien und das Bild der Bewegung in den Medien hätten vielleicht einer genaueren Betrachtung gelohnt. Zwar sieht man dann und wann, dass die Demonstranten beispielsweise mit dem Handy live gehen, um mehr Menschen zu erreichen, oder hört in einem Gespräch, wie die Bewegung in den Medien dargestellt wird – „Ausgestoßene in einem Kreisverkehr“ –, aber dabei bleibt es leider. Hier hätte man womöglich den neutralen Beobachterposten verlassen müssen, aber der formelle Bruch wäre an dieser Stelle vielleicht auch einem besseren Verständnis zugutegekommen.
Hervorzuheben ist auch der tolle Schnitt, der immer wieder Spannungsmomente aufbaut und einen auch mal aus einer lauten Situation herausreißt. Wer sich für Geschichte und Politik, oder generell für Revolutionen interessiert, macht nichts falsch damit, sich diesen Dokumentarfilm anzuschauen.
OT: „Un Peuple“
IT: „A French Revolution“
Land: Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Emmanuel Gras
Musik: Antarès Bassis, Manuel Vidal, Simon Apostolou, Manuel Vidal
Kamera: Emmanuel Gras
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)