Der Blick aufs Meer fasziniert viele Menschen. Er beruhigt, lässt die Zeit vergessen und setzt Glückshormone frei. Ein Zustand, der ideal wäre, um den neuen Film der Regisseurin und Künstlerin Helena Wittmann zu schauen, der wiederum den Flow der Meditation und des freien Assoziierens selbst hervorbringt. Denn eine Handlung im üblichen Sinne gibt es, wenn überhaupt, nur rudimentär. Will man die erzählerischen Fragmente zusammenkratzen, landet man bei der Seglerin Ida (Angeliki Papoulia), die mit ihrer fünfköpfigen Besatzung übers Mittelmeer gondelt. Bei einem Aufenthalt in Marseille stößt die Weltenbummlerin auf ein Gebäude der Französischen Fremdenlegion, das eine seltsame Faszination auf sie ausübt. Neugierig und offen, wie sie ist, beschließt sie, nach Algerien zu segeln, wo bis 1962 das Hauptquartier der Legion war. Aber nicht das Ziel treibt den Film voran, sondern das Segeln übers Meer als solches. Es ist eine Erfahrung des Sich-Auflösens, des Ineinanderfließens, des Daseins im Augenblick. Und damit: nicht-narratives, essayistisches Kino.
Austausch auf Augenhöhe
Das Meer hat es der Regisseurin angetan. Reiste sie in ihrem Debüt Drift (2017) über Nordsee und Atlantik, so ist sie im Nachfolgerfilm auf dem Mittelmeer unterwegs. So unterschiedlich die Charaktere der Meere, so eigenständig sind auch die Filme. Human Flowers of Flesh zeigt die mediterrane See von ihrer verführerischen, sinnlichen, lebensfreundlichen Seite. Kein Sturm weit und breit, nur sanfte Winde und mal mehr, mal weniger Geschaukel, fast so wie bei den Kindern in der Wiege. So lässt es sich leben in Shorts und T-Shirt. Und vor allem: So öffnen sich die Sinne für eine andere Art der Erfahrung, für das Sich-Treiben-Lassen, das geduldige Hinschauen, das Verschwimmen von Hierarchien.
Pflanze, Tier, Mensch, Wasser, Himmel, Luft – alles tritt miteinander in einen Austausch auf Augenhöhe. Sie lebe frei und immer in Bewegung mit ihrer Crew auf dem Meer, sagt einmal einer aus dem Off über Ida. „Alles fließt“ könnte das Motto des Films sein: nicht nur das Wasser, sondern das Leben als solches in seinem Werden und Vergehen, in seinem Austausch mit anderen Organismen. Das Mittelmeer sei als fluides Medium der eigentliche Hauptdarsteller ihres Films, sagt Helena Wittmann in einem Interview.
Gerades deshalb irritiert es, dass der Film bei aller Offenheit für vielfältige Interpretationen eine merkwürdige Faszination für die Fremdenlegion durchscheinen lässt. Dass er sich für eine militärische Elitetruppe interessiert, die mit friedlicher Koexistenz und Austausch auf Augenhöhe nicht das Geringste zu tun hat, sondern knallhart in weltweiten Konflikten eingesetzt wird, um den jeweiligen Feind plattzumachen. Um das zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass der Film natürlich vor dem russischen Überfall auf die Ukraine gedreht wurde, nämlich 2020 und damit auch vor den Nachrichten über die Rolle anderer Söldner wie der berüchtigten Wagner-Gruppe, die als Putins Schattenarmee gilt.
Verehrung für Claire Denis
Vor zwei Jahren, als die Welt noch eine andere war, mutete es keineswegs verwegen und aus heutigem Blickwinkel sogar hellsichtig an, das Interesse des Publikums auf die Fremdenlegion zu lenken mit der Intention, dass man sich wundern solle, warum es in der damaligen, für Europa friedlich scheinenden Epoche, überhaupt noch eine solche Söldner-Armee gab. Und ob das nicht ein Hinweis darauf sein könnte, dass unter der friedlich scheinenden Oberfläche die militärische Gewalt weiter lauert. Unabhängig davon haben die Bezüge zur Elitetruppe etwas mit der Verehrung der Regisseurin für ihr französisches Filmemacher-Vorbild Claire Denis zu tun. In deren Film Der Fremdenlegionär (1999) spielt Denis Lavant die Figur des Ausbilders Galoup. Und auch in Wittmanns Film taucht der Schauspieler am Ende auf, als ehemaliger Legionär mit exakt demselben Namen, wie man im Abspann erfährt. Die vieldeutige Anspielung ist die letzte, aber wahrlich nicht die einzige Aufforderung des Films an das Publikum, sich für die vielen offenen Fragen eine ganz persönliche Interpretation zurechtzulegen.
Beim Genre des Essayfilms, zu dem Human Flowers of Flesh mehr tendiert als zum Spielfilm (der er formal ist), scheiden sich gewöhnlich die Geister. Nicht jeder im Kinosaal ist geneigt, sich von Erwartungen an eine „normale“ Geschichte zu verabschieden. Gerade deshalb sollte man unbedingt nicht unvorbereitet in diesen Film gehen, sondern mit dem Vorwissen, dass er sich dem gewöhnlichen Erzählen verweigert. Dann kann man sich auf ihn einlassen und Wittmanns Herangehensweise genießen, die sich nicht wie andere Essayisten in intellektuellem oder pseudointellektuellem Geraune ergeht. Sondern etwas fördert, von dem wir alle zu wenig haben: das geduldige, neugierige, vorurteilslose Hinsehen.
OT: „Human Flowers of Flesh“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Helena Wittmann
Drehbuch: Helena Wittmann
Musik: Nika Son
Kamera: Helena Wittmann
Besetzung: Angeliki Papoulia, Vladimir Vulevic, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Mauro Soares, Steffen Danek, Denis Lavant
Locarno 2022
Filmfest Hamburg 2022
Nordische Filmtage Lübeck 2022
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