Je älter man wird, umso häufiger dürfte der Hang zur Rückschau werden. Wie ist mein Leben bislang gewesen? Wer bin ich? Und wie bin ich zu dem geworden, der ich heute bin? Pascal, von seinen Freunden Kalle genannt, hat es da einfacher. Schließlich gibt es einen Film, der die Hälfte seines bisherigen Lebens festhält. Dabei war Kalle Kosmonaut, so der Name der ihm gewidmeten Dokumentation, ursprünglich gar nicht in der Form angedacht. Angefangen hat es damit, dass Tine Kugler und Günther Kurth etwas zum Thema Schlüsselkind machen wollten. Kinder also, die sich zu Hause viel selbst versorgen müssen, weil die Eltern bei der Arbeit sind. Im Fall von Kalle war das seine Mutter, die ihn allein aufzog und deshalb nicht die Möglichkeit hatte, zu Hause auf ihn zuwarten. Davon erzählen die beiden in Pascal allein zu Haus – Wie Kinder für sich selbst sorgen, einer Folge der ZDF-Dokumentationssendung 37 Grad.
Zehn Jahre begleitet
Der Weg von dort zum aktuellen Kinofilm war lang. Genauer haben Kugler und Kurth ihren jungen Protagonisten über zehn Jahre lang begleitet. Immer wieder haben sie sich mit ihm getroffen und in den unterschiedlichsten Lebensphasen begleitet. Aus dem Jungen, der mit seiner Mutter UNO spielt, wird ein junger Mann mit eigenem Nachwuchs und einer bewegten Geschichte. Der Vergleich zu Boyhood drängt sich da geradezu auf. Man versucht hier und der Pressearbeit auch nicht, diesem Vergleich aus dem Weg zu gehen. Zumal es ohnehin einen großen Unterschied gibt: Linklater erzählte bei seinem Langzeitprojekt eine fiktionale Geschichte. Kalle Kosmonaut wiederum hält das reale Leben fest, muss den tatsächlichen Ereignissen nichts hinzufügen, um das Publikum zu fesseln.
Das liegt auch daran, dass sein Schicksal wirklich ein sehr bewegtes ist. So gerät Kalle irgendwann auf die schiefe Bahn, verliert die Kontrolle über sein Leben, begeht Verbrechen. Das ließ sich zu Beginn des Projekts natürlich kaum vorhersehen, von keinem der Beteiligten. Umso bemerkenswerter ist, dass der Film selbst unter diesen Umständen noch fortgesetzt werden konnte. Zwar nimmt er in dieser Zeit eine andere Form an, wenn animierte Sequenzen die realen vorübergehend ersetzen. Aber die Geschichte geht weiter. Und auch wenn der Wechsel etwas überraschend kommt, so ist Kalle Kosmonaut dennoch ein Werk aus einem Guss. So sehr ein Film sein kann, bei dem sich in mehr als anderthalb Stunden so viele Ereignisse aufeinandertürmen, wie sie ein Leben manchmal hergibt.
Zwischen Distanz und Vertrauen
Dass dies interessant ist, liegt auch an der Hauptfigur selbst. So ist Kalle zwar jemand, der aus einfachen Verhältnissen kommt und nicht unbedingt literaturpreisverdächtige Sätze von sich gibt, etwas bei seinen gelegentlichen Rap-Einlagen. Aber er ist doch reflektiert, zeigt gerade in den späteren Szenen eine entwaffnende Innerlichkeit. Wenn er beispielsweise bedauert, nie einen wirklichen Vater gehabt zu haben, und es besser machen möchte, dann geht das an die Nieren, ohne dass das Regieduo irgendwie manipulativ eingreifen müsste. Kalle Kosmonaut bleibt allgemein auf Distanz, versucht kein Opferbild zu zeichnen. Gleichzeitig ist der Film von Intimität und Vertrauen geprägt, wenn die Kamera mit der Familie durch dick und dünn geht. Da wird nichts geschönt oder verharmlost. Es wird aber auch keine der voyeuristischen Dokus draus, die das Leben anderer zum Zwecke kurzzeitiger Betroffenheit ausschlachten.
Stattdessen wird die Lebensgeschichte des Jungen zu einer Milieustudie, wenn Kugler und Kurth den Blick schweifen lassen. Zwar steht Kalle selbst im Mittelpunkt. Immer wieder kommen aber auch Freunde oder andere aus seinem Umfeld zu Wort und vervollständigen das Bild, das wir erhalten. Der Dokumentarfilm, der auf der Berlinale 2022 Weltpremiere hatte, wird auf diese Weise zu einem Panorama, das sich aus vielen kleinen Bildern zusammensetzt und viel darüber zu sagen hat, wie wir von außen geprägt werden. Kalle Kosmonaut macht daraus keine reine Problemaufbereitung. Hier geht es nicht darum, die Schuld für seine Fehler zu benennen. Stattdessen ist Kalle immer beides, Akteur und Getriebener. Ein Mensch, der versucht, sich in einer zuweilen trüben Welt zurechtzufinden und dem Ganzen einen Sinn zu geben – in der Gegenwart wie auch in der Rückschau.
OT: „Kalle Kosmonaut“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Tine Kugler, Günther Kurth
Drehbuch: Tine Kugler, Günther Kurth
Musik: Philip Bradatsch
Kamera: Günther Kurth
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Deutscher Filmpreis | 2023 | Bester Dokumentarfilm | Nominiert |
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