Close
Szenenbild aus Lukas Dhonts Drama "Close" (© Pandora Film)

Lukas Dhont [Interview]

Foto: Mayli Sterkendries

Nach Girl im Jahr 2018 startet mit Close der zweite Langfilm des belgischen Filmemachers Lukas Dhont am 26. Januar 2023 in den deutschen Kinos. Close handelt von den beiden 13-jährigen Léo und Rémi. Von ihrer Freundschaft. Von Konformität, von Verlust und Erinnerung. Der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Film zeigt eindringlich das Auseinanderleben zweier Jugendlicher und dem, was davon bleibt. Im Interview spricht Lukas Dhont über Männlichkeit und Intimität, das Visual Storytelling in seinem Film und vieles mehr.

Spoilerwarnung: In dem Interview werden über zentrale Szenen im späteren Handlungsverlauf gesprochen. Wer Close nicht gesehen hat, sollte dieses Interview nicht lesen.

Ich habe gehört, du hast die Idee zum Film über eine Studie bekommen. Was für eine Studie war das?

Das war eine Studie der US-amerikanischen Psychologin Niobe Way. Sie hat darin 160 Jungs aus einkommensschwachen Familien über ihre männlichen Freunde befragt. Das hat sie über mehrere Jahre wiederholt und die Antworten mit ansteigendem Alter verglichen. Im Alter von 13 haben die meisten von ihren Freunden fast wie von Geliebten gesprochen. Es sind die wichtigsten Personen in ihrem Leben. Die Personen, mit denen sie alles teilen. Im Alter von 16, 17 und 18 ändert sich das. Dieselben Jungs haben dieselben Fragen völlig anders beantwortet. Sie distanzieren sich viel mehr voneinander, schätzen andere Dinge mehr als die Freundschaften. Zum Beispiel romantische Beziehungen.

Wie kam es von da zum Film?

Als ich die Studie gelesen habe, konnte ich mich damit stark identifizieren. Denn als Junge, der auf dem flämischen Land aufgewachsen ist, hatte ich irgendwann Probleme damit, Intimität zu anderen Jungs aufzubauen, weil es von allen Seiten komisch angeguckt wurde. Direkt durch eine sexuelle Sichtweise. Und ich war zu dieser Zeit nicht bereit, diese Sichtweise anzunehmen, weshalb ich viele meiner Freunde abgewiesen habe, die nah bleiben wollten. Mir ist klargeworden, dass das kein persönliches Problem von mir ist, sondern ein größeres Problem ist. Ein Problem, das mit unserer Wahrnehmung von Maskulinität zu tun hat. Und darüber wollte ich einen Film machen. Ich wollte einen Film machen, der diese freundschaftlichen Verbindungen zeigt, aber auch, was der Verlust davon bedeuten kann.

Ist dieser Verlust von Intimität bei Freundschaften im Zuge der sexuellen Erweckung in der Pubertät unvermeidlich?

Ich glaube, es ist ein fremdartiges Bild, junge Männer zu sehen, die so eine liebevolle Nähe zueinander haben. Wir sind auf Bilder konditioniert, in denen der Kontext sich nahestehender Männer einer von zweien ist: Kampf oder etwas Sexuelles. Wenn wir zwei junge Männer sehen, die zusammen im Bett liegen und keiner dieser beiden Kontexte ist gegeben, irritiert uns das. Ich glaube, wir erlauben es jungen Männern nur in einem stark eingeschränkten Kontext, sich zärtlich zu verhalten. In weiblichen Freundschaften ist das anders. Es gibt dort ein normalisiertes Bild von Zärtlichkeit. Ich glaube also nicht, dass es unvermeidlich ist. Ich glaube aber, wenn man als Kind zum ersten Mal mit der eigenen Andersartigkeit konfrontiert ist, dann macht das etwas mit den meisten von uns. Wenn wir realisieren, dass es Beliebtheit, Normen, Label und Codes gibt. Dann passen wir uns an. Es gibt Leute, und die erachte ich als sehr mutig, die es nicht stört, anders zu sein. Viele von uns wollen aber Konformität, wollen zu einer Gruppe gehören, wollen von vielen geliebt werden. Ich stelle mir das wie eine Welle vor. Ihr auszuweichen ist schwer. Vor allem, wenn man jung ist.

Glaubst du, der Film schafft es, junge Männer zu ermutigen, diese Nähe und Intimität bei ihren Freunden zu suchen?

Es würde mich freuen, wenn der Film das schafft, aber ich bin mir auch seiner Grenzen bewusst. Ich drücke Perspektiven der Welt durch Film aus. Ich schreibe Charaktere und konfrontiere sie mit bestimmten Ideen. Charaktere sind aber keine echten Menschen. Ich hoffe, dass jemand beim Schauen eine Verbindung zum Film und zu seiner Sichtweise spürt. Forcieren kann ich das aber nicht. Deshalb ist mir die Konversation um einen Film enorm wichtig. An viele Orte zu reisen und mit vielen Menschen über die Themen eines Films zu sprechen, ist genauso wichtig, wie die Themen überhaupt im Film auszudrücken. Denn mir persönlich ist es wichtig, Menschen und vor allem junge Männer zu Nähe zu ermutigen. Viele unserer gesellschaftlichen Probleme haben mit dem Verlust von Nähe und Empathie zu tun. Sowohl zu anderen als auch zu uns selbst. Und ich sehe eine Wichtigkeit darin, sie wiederherzustellen.

Trotzdem verwehrst du deinen Figuren durch Rémis Suizid genau das. Wieso hast du dich dazu entschieden?

Natürlich wegen des Dramas (lacht). Aber im Ernst, ich glaube, ein Film sollte ein einschneidendes Erlebnis sein und dafür muss man auch unerwartete Entscheidungen treffen. Wir wollten den Film nicht zu vorhersehbar machen. Außerdem knüpfen wir damit auch an die Idee an, Freundschaft als Äquivalent einer Romanze zu sehen. Die Idee des Herzbruchs wird immer mit romantischen Beziehungen in Verbindung gebracht und weniger mit Freundschaften. Wir wollten zeigen, wie wichtig diese Beziehungen für das eigene Wohlbefinden sind und dass man auf sie Acht geben sollte. Die ersten Worte, die ich ins Drehbuch geschrieben habe, waren Fragilität und Brutalität. Denn ich wollte die Fragilität einer solchen Beziehung zeigen. Wie schön sie ist, aber auch wie schnell und drastisch sie zerbrechen kann. Und deshalb ist auch Verlust zu einem großen Thema geworden.

Ihr habt den Film in der Pandemie gedreht. Hat das die Entscheidung, dem Thema Verlust eine so wichtige Rolle zu geben, beeinflusst?

Definitiv. Für mich und viele andere Menschen war die Pandemie eine Zeit, die davon geprägt war, Freund*innen oder Familie nicht besuchen zu können. Das hat zu vielen Kontaktverlusten geführt. Und dazu kommt natürlich der tatsächliche Verlust von nahestehenden Menschen. Außerdem hat mich die Pandemie gelehrt, wie wichtig es ist, miteinander zu sprechen und in Kontakt zu bleiben. Denn so sehr wir uns auch mit Menschen umgeben, aber wir bleiben doch immer irgendwie unsere eigene Insel. Wir können anderen Personen so vermeintlich nahestehen und trotzdem nichts von ihren inneren Dämonen mitbekommen.

Du hast eben bereits den Bruch der beiden Figuren angesprochen. Wir erleben diesen Bruch ja nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch sehr stark auf der visuellen Ebene. Wie bist du das angegangen?

Ich bin ein sehr visuell denkender Mensch. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, denke ich mehr wie ein Choreograf, als ein Autor. Ich versuche, in Bewegungen, in Farbe, in Szenenbildern, in Kostümen zu denken. Als ich also über die Struktur des Films nachgedacht habe, hatte ich zwei sich spaltende Linien vor Augen. Ich wollte im Film dann unbedingt eine Szene haben, die diese Bewegung auffängt, eine Szene, die diese Spaltung zeigt. Daraus geworden ist letzten Endes der Moment beim Fahrradfahren. Der eine fährt auf der einen Seite, der andere auf der anderen.

Gibt es weitere Bilder, die für dich ganz zentral im Film sind?

Es gibt ein Bild und ein Kostüm, die sehr zentral für mich waren. Das Bild ist ein Bild von zwei Jungs in einem Blumenfeld. Unbewusst ist das für mich wahrscheinlich so wichtig, weil die Blumen ein so präsenter Teil meines Erwachsenwerdens auf dem Land waren. Für mich war das also immer ein Bild der Kindheit. Aber ich dachte mir auch, dass es farblich ein so passendes Bild für diesen Teil des Lebens ist. Wie zwei Jungs, die durch ein Bilderbuch rennen. Als ich bewusster darüber nachgedacht habe, kam mir auch die Kurzlebigkeit von Blumen, ihre Fragilität, in den Sinn. Die Felder zu ernten, die Blumen abzuschneiden, die farbliche Tonalität des Films in Braun zu ändern und die Farben dann langsam zurückkehren zu lassen, war ein Weg, den Verlauf des Films visuell zu untermalen. Das zentrale Kostüm ist das Eishockey-Outfit. In Girl war das Kostüm so wichtig, weil es alles vom Körper gezeigt hat. Hier ist das Gegenteil der Fall. Das Outfit ist fast wie eine Rüstung, Léo kann sich in ihr verstecken, ist aber auch in ihr gefangen. Außerdem hat er eine Maske vor dem Gesicht. Es ermöglicht ihm, eine Rolle zu spielen, hält ihn aber auch davon ab, sich selbst und seine Schuld zu konfrontieren.

Ist diese Art des Visual Storytelling für dich auch eine Art, Dinge auszudrücken, die die Figuren selbst nicht ausdrücken können?

Auf jeden Fall. Ich denke, es gibt viel, das über die Figuren hinausgeht. Rémis Zimmer zum Beispiel. Wir haben ihm die sehr sinnliche Farbe Rot gegeben, denn wir wussten, dass sich die Atmosphäre des Zimmers im Laufe des Films verändern und sich quasi den Gefühlen der Figuren anpassen kann. Auch wenn diese ihre eigenen Gefühle gar nicht verstehen und im Konflikt mit ihnen stehen. Deshalb ist der Suizid auch nicht zu sehen. Wir wollten keine Gewalt zeigen, sondern die Auswirkungen von Gewalt, die Auswirkungen von Verlust, von Schuld, die innere Gewalt, die so ein Ereignis auslöst. Für mich ist es wichtig, über das Thema innerer Konflikte zu reden. Es ist mir wichtig, Männer zu zeigen, die nicht miteinander kämpfen, sondern die mit sich selbst kämpfen. Ich wusste, dass wir Bilder finden müssen, die das suggerieren. Bilder, die die Vorstellungskraft der Menschen anregen. Wir haben versucht, die Figuren sprechen zu lassen, ohne die Figuren sprechen zu lassen.

Du hast mit Girl und Close zwei Filme gemacht, die von dieser inneren Gewalt ihrer Figuren geprägt sind. Soll sich das in deinem nächsten Projekt ändern?

Ich lese momentan sehr viel, um Close nicht mehr zu analysieren und meinen Kopf freizukriegen. Ich habe aber auf jeden Fall schon eine grundsätzliche Idee, was ich als Nächstes machen möchte und es geht tatsächlich in eine andere Richtung. Es ist zwar immer gefährlich schon so früh darüber zu sprechen, vielleicht ändere ich nochmal alles, aber ich verrate mal so viel. Mein nächstes Projekt soll größer werden und nicht in der Gegenwart spielen.



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