Russland, irgendwann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ein neues Jahr steht vor der Tür. Grund zum Feiern sieht Petrow (Semyon Serzin) jedoch nicht. Denn Petrow ist krank, pünktlich zum Jahresende hat er sich eine Grippe eingefangen, die ihm ganz schön zu schaffen macht. Während er dennoch versucht, irgendwie den Tag rumzukriegen, macht sich die Krankheit bei dem Automechaniker, seiner Frau (Chulpan Khamatova) und seinem Sohn (Vladislav Semiletkov) zunehmend bemerkbar. So entgleitet ihnen zunehmend die Kontrolle, während sie durch ein Russland außer Rand und Band taumeln …
Die Geschichte einer Krankheit
Kirill Serebrennikov gehört sicher zu den schillerndsten Regisseuren des heutigen Russlands. Immer mal wieder eckt er an, gerade auch bei der Regierung, die ihn mit verschiedenen Methoden mundtot machen wollte. Unter anderem drohten ihm sechs Jahre Lagerhaft, angeblich wegen Veruntreuung. Aber auch die russisch-orthodoxe Kirche protestierte gegen die Werke des Künstlers, der Filme, Theaterstücke und Opern inszenierte. Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber, alternativ als Familie Petrow hat Grippe bekannt, ist eher weniger dazu geeignet, sich das Wohlwollen der Oberen zu erschmeicheln. Denn was Serebrennikov hier vorgelegt hat, ist schon ein starkes Stück und nah an der Unzumutbarkeit.
Dabei geht die Geschichte gar nicht auf ihn selbst zurück. Vielmehr nimmt er sich eines Romans von Alexei Salnikow an, der hierzulande unter dem Titel Petrow hat Fieber: Gripperoman veröffentlicht wurde. Darin schildert der Autor, wie der Protagonist zunehmend dem Fieberwahn erliegt und sich dabei Bilder der Vergangenheit mit aktuellen Ereignissen vermischen. Das ist im Film genauso. Es gibt hier keine klare Erzählebene. Eine Struktur braucht man ohnehin nicht zu suchen, schon nach wenigen Minuten dürften so ziemlich alle im Publikum in einem wilden Rausch aus Bildern verlorengehen. Da wird alles Mögliche zusammengeworfen. Und alles Unmögliche gleich dazu, wenn gleich zu Beginn das Chaos ausbricht und das bis zum Schluss von Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber auch konsequent durchgezogen wird.
Verloren im Fieberrausch
Dabei werden auch ständig Grenzen aufgehoben. Das betrifft nicht nur das Konzept Zeit, wenn Überbleibsel der Vergangenheit überall auftauchen. Symbolisch ist beispielsweise eine Tablette aus den 1970ern, die irgendwie immer noch im Besitz von Petrow ist. Dass diese jetzt nicht mehr unbedingt heilende Wirkung hat, ist klar. Aber so ist das mit der Vergangenheit hier: Sie ist entweder nutzlos oder schädlich. Nicht dass es eine wirkliche Perspektive gäbe, wonach die Gegenwart besser würde. Von der Zukunft ganz zu schweigen. Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber rast zwar von einem Ort zum nächsten, führt dabei die unglaublichsten Kunststückchen auf. Ein klares Ziel ist dabei aber nicht zu erkennen. Es hat ja nicht einmal eine Richtung, wenn die Rastlosigkeit der Ereignisse jegliche Orientierung verhindert. Man weiß schlicht nie, was als nächstes passieren wird. Man weiß oft ja nicht einmal, was gerade passiert ist.
Das ist nicht nur für die Regierung eine Zumutung, wenn Serebrennikov ein wenig schmeichelhaftes Bild seines Heimatlandes zeichnet. Russland wird bei ihm zu einem gewaltbereiten, betrunkenen Hühnerhaufen, der kopflos im Kreis rennt. Die Krankheit der Familie steht stellvertretend für eine kranke Gesellschaft. Das ist gleichermaßen faszinierend wie anstrengend, gerade auch weil man nie wirklich weiß, was hier real ist und was einer kranken Fantasie entspringt. Hinzu kommt, dass das Drama, welches 2021 in Cannes Premiere feierte, mit einer Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden schon sehr lang geworden ist. Da ist es ganz normal, wenn irgendwann auch der eigene Geist auf Wanderschaft geht. Aber was heißt schon normal bei einem Film wie Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber? Als Seherfahrung ist das unbedingt empfehlenswert, sofern man sich auf einen solchen irren Trip einlassen kann, bei dem man nach Herzenslust interpretiert und am Ende vielleicht dennoch ohne Ergebnis zurückbleibt.
OT: „Petrovy v grippe“
OT: „Familie Petrow hat Grippe“
Land: Russland, Frankreich, Deutschland, Schweiz
Jahr: 2021
Regie: Kirill Serebrennikov
Drehbuch: Kirill Serebrennikov
Vorlage: Alexei Salnikow
Kamera: Vladislav Opelyants
Besetzung: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn
Wer mehr über den Film erfahren möchte: Wir konnten Regisseur Kirill Serebrennikov im Interview zu Petrov’s Flu ein paar Fragen stellen.
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