Kerstin (Christina Große) stellt ihr Auto ab und schiebt ihr Kajak in einen Fluss im Wald. Es ist der Beginn eines gemütlichen (Water)-Roadtrips könnte man denken. Einfach mal die Natur genießen, vielleicht neue Freunde bei Lagerfeuerstimmung und einem Bier kennen lernen. Doch etwas stimmt nicht. Wer sind die Leute, die nach Kerstin suchen? Vor was (oder vor wem) paddelt sie davon? Als dann noch Alima (Pegah Ferydoni) in ihr Leben tritt und sich eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt, sitzen wir plötzlich selbst in einem Kajak, während die Stromschnellen des Dramas uns mit sich reißen.
Im Kreis fahren, um anzukommen
Alaska ist ein Film des Regisseurs Max Gleschinski (Kahlschlag) und Teil des Programms des Filmfestivals Max Ophüls Preis. Der Anfang des Films hat etwas fesselnd Entschleunigendes. Die Kamera lässt sich Zeit. Wer ist diese Frau? Geräusche der Natur im Morgengrauen. Fährt sie in den Urlaub? Im Auto hört sie Be My Lover des Eurodance-Duos La Bouche. Ist der Song ein erster Hinweis auf das Thema des Films? Die Fremde hält an einem Ufer, lädt ihr Kajak ab und setzt es in den Fluss. Das Auto lässt sie stehen. Sie wirkt in sich gekehrt, in Gedanken versunken. Woran mag sie denken? Erst als Alima auftaucht und sich zu ihr gesellt, beginnen wir mehr über die Fremde herauszufinden.
Sie heißt Kerstin und ihr Vater ist vor kurzem gestorben. Wir erfahren außerdem, dass sie eine bestimmte Route abpaddeln möchte. Alima bemerkt belustigt: „Dir ist aber schon klar, dass du im Kreis fährst?“ Wir erfahren im Laufe des Films, dass ihr Weg in mehreren Hinsichten ein Zurückkehren ist, nicht nur auf Grund der kreisförmigen Route. Es ist ein Zurückkehren an einen vertrauten Ort, ein Zurückkehren zu einer Erinnerung und zu einem Traum. Während des Films begegnen uns noch weitere Wiederholungen in Form von Sätzen, Szenen und metaphorisch aufgeladenen Bildern, die dem Drama, neben einer Einteilung in vier Kapitel, auch kapitelübergreifend eine innere Struktur und Bedeutungsebenen verleihen.
Die Einteilung in vier Kapitel geht auch mit einem Wechsel der Perspektiven einher, der sehr erfrischend beim Schauen wirkt, da sich gerade am Anfang immer wieder neue Fragen auftun, die Spannung in die Handlung bringen. Die Kapitel werden mit Gemälden untermalt, die in einer Art Garage stehen. Am Ende des Films werden diese Bilder dem Film eine mystisch angehauchte Doppeldeutigkeit verleihen, da – Achtung Spoiler – unter anderem Alima dort abgebildet ist, wobei der Maler diese zum Zeitpunkt der Erstellung vermutlich nicht gekannt haben kann. Dadurch wird zumindest formal nochmal eine Art von Kreis geschlossen; ein roter Faden, der die Perlen der Kapitel zu einer Kette aufreiht.
Magie des Augenblicks und die Kröte
Die Schauspieler harmonieren gut miteinander. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen, etwa der Streit am Ufer, der in einer kurzen Schlägerei gipfelt, ein Moment, der nicht sehr überzeugend wirkte, gibt es eine Menge Szenen, die auf ein sicheres Gespür für Gesten, Mienenspiele und authentische Dialoge schließen lassen. Der Film besitzt auch Humor und gutes Timing: Die Anschnallgurt-Szene mit der Frau des Bruders von Kerstin (Milena Dreißig) bringt einen schon zum Schmunzeln. Besonders herausragend ist das Zusammenspiel von Kerstin und Alima. Pegah Ferydoni verschmilzt dabei so sehr mit der Rolle, dass ein Gefühl von Authentizität entsteht und man glaubt, sie spiele sich schlichtweg selbst; eine temperamentvolle Berlinerin – „Icke?“. Wenn sie ihre Bierflasche auf die von Kerstin haut, damit Schaum daraus hervor tritt, wirkt der Moment, auch in Kombination mit Kerstins Reaktion, so echt, dass sich fast die Frage aufdrängt, ob dieser Part so im Drehbuch gestanden hat, oder ob dies einer dieser besonderen Zufälle war; die Magie des Augenblicks.
Es gab einen Auftritt, der mindestens fragwürdig war: Die Kröte, die im Einmachglas über das Wasser getragen wird. In der einen Szene starrt sie Kerstin an und dann, als diese verschwunden ist, findet Alima das Tier auf der Frauentoilette wieder. Die Kröte ist damit ein verbindendes Element, die womöglich tiefere Idee, die noch dahinter stecken mag, tritt dabei nicht so deutlich heraus, dass ihr Weglassen dem Film einen Zacken aus der Krone gebrochen hätte. Dafür hat es der Kröte vermutlich die Lust am Kajakfahren vermiest.
Aber zurück zu der „Magie des Augenblicks“. Im Laufe des Films gibt es außerdem formale Elemente, die beim ersten Schauen womöglich leicht übersehen werden könnten. Mit zwei kurzen Einsätzen von Großaufnahmen und dezenter Slow Motion werden wir auf eine tieferliegende Gefühlsebene, ein Veränderung der Beziehung der Figuren zueinander hingewiesen. Diese Geschwindigkeitsdrosselung findet sich dann auch wieder im Dialog: „Alle hundert Jahre verlangsamt sich die Erdrotation um zwei Millisekunden […]“, erzählt Kerstin und bringt damit in Kombination mit dem Slow-Motion-Einsatz eine subtile Verbindung hervor, wodurch die Bedeutung dieser Freundschaft zu etwas ganz Besonderem zu werden scheint, ein Ereignis, das es nur „alle hundert Jahre“ gibt.
Alaska ist also auch ein Film, der ein zweites Schauen belohnt, da man Mehrdeutigkeiten und Beziehungen zwischen Form und Inhalt entdecken kann. Darüber hinaus fängt die Kamera immer wieder meditativ anmutende Bilder ein – z.B. Kerstin im Kanu bei Nacht –, die den Film visuell interessant machen.
Abgeschwächtes Ende
In der ersten halben Stunde entwickelt der Film eine sehr ruhige, geheimnisvolle Stimmung, unterspült von einem Gefühl der Bedrohung. Dann wird diese Türe der Gefahr weiter aufgestoßen: „Die Frau hat meine Familie betrogen“, erzählt ein junger Kerl (Niklas Wetzel), dessen rare Auftritte die Vermutung wecken, es handle sich um einen Psychothriller. Spätestens mit dem nächsten Perspektivwechsel verblasst diese düstere Atmosphäre, vor dessen Hintergrund sich Kerstin und Alima anfreunden. Die Zuschauer erfahren, was vor sich geht. Dadurch werden die meisten Fragen geklärt, was dem Film einen Teil seiner Spannung nimmt. Der aggressive junge Mann, der Sohn des Tischlers, taucht für den Rest des Filmes nur noch selten auf und eine für den Charakteraufbau eines wütenden, möglicherweise sogar unberechenbaren, Antagonisten entsprechende Pointe wie etwa eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Kerstin bleibt hier aus.
Für den Rest des Films nimmt ein Familiendrama Gestalt an und die Freundschaft zwischen Alima und Kerstin vertieft sich. In diesem Teil nehmen Kerstins Bruder (Karsten Antonio Mielke) und dessen Frau eine größere Rolle ein. Es geht um alte Familienbande und um Geld, das Kerstin irgendwo versteckt haben könnte. Die Geschichte nimmt an dieser Stelle neue Fahrt auf und wirkt wie ein Abstecher ins Heist-Genre, schöpft diese durchaus spannende Idee aber nicht ganz aus. Leider fehlt es in diesem Teil an Brisanz und dem Gefühl der Bedeutsamkeit, was die Beschaffung des Geldes anbelangt, die Figur des Bruders von Kerstin wirkt hier etwas zu gleichgültig mit der Situation, um einen Moment des fesselnden Mitfieberns zu entwickeln. Die Konflikte wirken nicht mehr so gefährlich wie noch in der ersten Stunde des Films, was sich auf die Spannung auswirkt. Es bleibt bei Andeutungen und fast entspannten, wenn auch interessanten Gesprächen zwischen den Figuren. Dadurch verliert die Schlussszene mit dem Bruder im Regen an emotionaler Sprengkraft. Die parallele Szene zwischen Alima und Kerstin hingegen wird mit präzisen close-ups entwickelt.
OT: „Alaska“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Max Gleschinski
Drehbuch: Max Gleschinski
Musik: Axel Meier
Kamera: Jean-Pierre Meyer-Gehrke
Besetzung: Christina Große, Pegah Ferydoni, Karsten Antonio Mielke, Milena Dreißig
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