Das Tagebuch von Anne Frank ist weltberühmt. Die Geschichte des jüdischen Mädchens, das in seinem Versteck in Amsterdam seinen Alltag und seine Gefühle festhält, ging um die Welt und machten die im Konzentrationslager gestorbene Anne zu einem Symbol des Holocausts. In Wo ist Anne Frank erzählt der israelische Regisseur Ari Folman diese Geschichte auf ungewöhnliche Weise. So wechselt der Animationsfilm zwischen vergangenen Szenen, die aus dem Tagebuch entnommen sind, und solchen in der Gegenwart, in der Annes imaginäre Freundin Kitty zum Leben erwacht ist und Anne überall sucht – ohne zu wissen, dass sie seit vielen Jahrzehnten tot ist. Zum Kinostart haben wir mit Folman ein Interview geführt und mit ihm über die Arbeit an dem Film gesprochen.
Könntest du uns etwas über den Hintergrund von Wo ist Anne Frank verraten? Wie kam es zu dem Projekt?
Mir wurde vor neun Jahren angeboten, eine Adaption des Tagebuchs von Anne Frank zu machen. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob ich das wirklich tun sollte, weil ich das Gefühl hatte, dass bereits alles zu dem Thema bereits gemacht wurde. Wir brauchten irgendeinen neuen Ansatz, der auch für ein jüngeres Publikum funktioniert und der sie irgendwie berührt. Sonst würde das Ganze ein Fehlschlag. Du brauchst bei Kindern mehr als nur Logik und Fakten, wenn du ihnen eine Geschichte erzählst.
Wie kam es dazu, dass ihr Annes Geschichte aus der Perspektive ihrer imaginären Freundin Kitty erzählt?
Ich war wie gesagt auf der Suche nach einem neuen Ansatz, war dabei aber immer davon überzeugt, dass die Antwort irgendwo in dem Tagebuch liegen muss. Also habe ich es gelesen, viele Male, bis ich irgendwann merkte, dass Annes Beschreibungen von Kitty die Grundlage sein könnten, um aus ihr eine Figur zu machen. Du hattest alles darin: wie sie aussieht, wie sie lächelt, wie sie geht. Die Beschreibungen waren so grafisch, dass du daraus leicht ein Design machen konntest.
Das Äußere ist aber nur ein Teil von ihr. Wie schwierig war es, aus ihr jemanden zu machen, der auch handelt? Im Tagebuch antwortet sie schließlich nicht.
Es war einfacher, als Anne Frank umzusetzen. Denn egal, was du auch mit ihr machst, da ist immer der Schatten der realen Anne Frank. Sie ist eine Ikone und es war sehr schwierig, davon wegzukommen und wieder einen Menschen aus ihr zu machen. Sie war intelligent, war eine fantastische Autorin. Gleichzeitig war sie ein Mädchen, das sehr lustig war und einen großartigen Sinn für Humor hatte. Sie konnte auch sehr gemein sein und hatte ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter. Und war es wichtig, all diese Facetten aufzuzeigen und sie als den Menschen zu zeigen, der sie war.
Weshalb ist sie überhaupt zu einer solchen Ikone geworden? Es gab schließlich Millionen von Opfern während des Holocausts. Was macht ihre Geschichte so besonders?
Ich denke, dass dies auch mit der Geschichte des Holocausts in den Niederlanden zusammenhängt. 85 Prozent der Juden in den Niederlanden wurden in den Lagern getötet. Und die 15 Prozent, die überlebt haben, waren nicht wirklich willkommen. Dabei wäre es mit keinem großen Risiko verbunden gewesen, die Juden zu verstecken. Anders als in Polen, wo du dafür exekutiert werden konntest, wurden die Helfer der Juden nur verhört. Mehr geschah ihnen nicht. Und doch starben am Ende 85 Prozent.
Könntest du uns noch etwas zu deinen Recherchen verraten? Wie schwierig war es, außerhalb des Tagesbuchs, alle Infos zu bekommen?
Das Schwierigste war, überhaupt erst einmal eine Struktur für den Film zu entwickeln. Die Recherche war da deutlich einfacher. Klar war sie die Basis für das, was wir erzählen. Aber ich habe dadurch nicht ungewöhnlich Neues gelernt. Eine Zeit lang war ich gefangen in der Frage, wer die Familie verraten hat. Am Ende habe ich das aber beiseitegelassen, weil es für die Geschichte nicht wichtig war. Außerdem wirst du das wahrscheinlich nie wirklich erfahren.
Wo ist Anne Frank wechselt zwischen den Szenen in der Neuzeit, in denen wir Kitty folgen, und den Szenen, die aus dem Tagebuch entnommen sind. Wie schwierig war es, die Tagebuch-Szenen auszusuchen? In dem Original gab es schließlich noch viele weitere.
Wir haben vor dem Film bereits eine Graphic Novel veröffentlicht und hatten dafür bereits die Auswahl treffen müssen, welche Szenen für die Geschichte geeignet sind und welche weniger. Insofern war das beim Film dann ziemlich einfach. Wir haben zwar einiges geändert im Film im Vergleich zur Graphic Novel. Aber es war doch eine gute Vorlage, an der wir uns auch orientieren wollten, weil sie so erfolgreich war. Deswegen wussten wir bereits, dass das Publikum das annimmt.
Und weshalb habt ihr den zweiten Handlungsstrang in der Gegenwart gemacht? Ihr hättet auch nur die Tagebuchszenen mit Kitty erzählen können.
Als Annes Vater Otto ihr Tagebuch veröffentlichte, wollte er von dem Horror des Holocausts erzählen. Er wollte aber auch ein Bewusstsein schaffen und so Mitgefühl für Kinder aus Kriegsgebieten erzeugen. Es sollte keinen Unterschied machen, woher jemand kommt, welche Religion man hat oder wie man aussieht. Er spendete fast das gesamte Geld, das er mit dem Verkauf des Tagebuchs verdiente, an Organisationen, die sich um Kinder in Kriegsgebieten kümmern. Ich wollte diesem Vermächtnis von Otto gerecht werden.
Und wie kamst du von dort zum Thema Einwanderung?
Ich wollte, dass die Geschichte auch weiterhin in Europa spielt. Es hätte einfach keinen Sinn ergeben, von Anne Frank zu Afrika zu springen und dortige Kriegsszenen zu zeigen. Wir brauchten schon eine Verbindung zu Anne. Außerdem war das Thema Einwanderung 2015 und 2016, als ich an dem Buch saß, allgegenwärtig. Ich konnte Kitty nicht durch Amsterdam laufen lassen und dabei ignorieren, was zu der Zeit los war. Natürlich kannst du Einwanderung und den Holocaust nicht gleichsetzen. Die 1,5 Millionen Kinder, die damals gestorben sind, hatten nicht die Chance, überhaupt ins Ausland zu fliehen und dort Hilfe zu suchen. Überhaupt kannst du verschiedene Genozide nicht miteinander vergleichen. Wie willst du die Ermordung der Juden beispielsweise mit dem vergleichen, was im Kongo geschehen ist zur Zeit des belgischen Königs Leopold II.?
Eine ganz andere Frage: Warum habt ihr Wo ist Anne Frank als Animationsfilm umgesetzt?
Ich denke, dass Animationsfilme ganz allgemein dabei helfen können, Ereignisse erträglicher zu machen, weil du eine Art Filter darüber legst.
Und wie schwierig war es, dafür dann die richtigen Bilder zu finden?
Es hat lange gedauert, bis wir die richtige Mischung hatten. Oft ist es in Filmen so, die historische Szenen mit aktuellen verbinden, dass die historischen Szenen in Schwarzweiß gemacht werden, besonders wenn es um das Thema Krieg geht, während die aktuellen Szenen mit leuchtenden Farben arbeiten. Dabei war der Krieg nicht schwarzweiß. Ich habe das im Film umgedreht. Du hast die lebendige Vorstellungskraft von Anne Frank, weshalb ihre Szenen sehr bunt sind. Das gegenwärtige Amsterdam ist hingegen ziemlich trübe und farblos. Was wir außerdem gemacht haben: Wir haben reale Miniaturhintergründe genommen und vor denen die animierten Figuren eingebaut.
Das klingt nach einem sehr langen Prozess. Wie lange habt ihr insgesamt an Wo ist Anne Frank gearbeitet?
Insgesamt waren es acht Jahre. Das war sehr anstrengend und ich weiß nicht, ob ich das alles ohne meine Familie geschafft hätte.
Und jetzt, da die Arbeit hinter euch liegt, was erhoffst du dir? Was möchtest du mit dem Film erreichen?
Ich hoffe vor allem, dass ich ein möglichst großes Publikum erreiche, gerade auch Kinder. Vielleicht fühlen sie sich dadurch angesprochen und inspiriert, selbst an dieser Welt etwas ändern zu möchten und einen kleinen Beitrag zu leisten. Wenn es Leute gibt, die durch Wo ist Anne Frank das Bedürfnis bekommen haben, sich zu engagieren oder auch mehr über Anne zu erfahren, dann habe ich meine Arbeit getan.
Vielen Dank für das Gespräch!
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