Seitdem ihre Mutter fort ist, hat Shenxiu jeden Lebensmut verloren. Hinzu kommt, dass ihr Vater und seine neue Frau nur Augen für das gemeinsame Baby haben und sie völlig missachten. Selbst als sie gemeinsam auf eine Kreuzfahrt gehen, bleibt das Mädchen ein Fremdkörper. Bald hat sie jedoch ganz andere Sorgen: Nach einem schweren Sturm erwacht sie auf einer riesigen Schwimmente, von dem Schiff ist weit und breit nichts zu sehen. Dafür begegnet sie dem vieläugigen Fabelwesen Hyjinx, welches das Lied ihrer Mutter singt und vielleicht helfen kann, diese wiederzufinden. Auf dem Weg macht sie die Bekanntschaft des exzentrischen Kochs Nanhe, der tief unter der Meeresoberfläche ein Restaurant betreibt. Zumindest noch, denn die Geschäfte laufen nicht gut, das Geld wird knapp. Da kommt ihm das Hyjinx gerade recht …
Chinesisches Wunderwerk
So richtig viel bekommt man nach wie vor nicht vom chinesischen Kino mit, nur selten schaffen es die Filme bis zu uns. Selbst große Blockbuster, die umgerechnet mehrere hundert Millionen US-Dollar einspielen, bleiben uns vorenthalten. Insofern verwundert es nicht, dass auch die dortige Animationsszene hierzulande kaum wahrgenommen wird. Dann und wann verirrt sich dann aber doch ein solches Werk nach Deutschland. So lief Boonie Bears: Ein tierisches Abenteuer, das zu einer in China sehr populären Reihe gehört, sogar im Kind. Das Fantasyabenteuer The Legend of Hei – Die Kraft in dir wurde immerhin fürs Heimkino veröffentlicht. Beides ist bei Deep Sea bislang nicht angekündigt. Dafür läuft der Film, der seit Wochen in den heimischen Kino Top 10 ist, auf der Berlinale, wo ihn Animationsfans nicht verpassen sollten.
Tatsächlich ist Deep Sea ein Film, der sogar in die Kinos gehört. Von Anfang an gefällt der Film durch seine stimmigen Bilder, wenngleich die Designs zunächst noch recht generisch sind und sich nicht allzu sehr von dem Gros an CGI-Animationsfilmen unterscheidet. Das ändert sich, sobald Shenxiu den sicheren Boden unter sich verliert und mit in die Unterwasserwelt gezogen wird. Auf einmal scheint alles zu explodieren. Regisseur und Drehbuchautor Tian Xiaopeng füllt das Restaurant mit einer Reihe seltsamer Kreaturen, bei denen zuerst nicht klar sind, ob sie zu den Gästen oder der Crew gehören. Nicht dass man sonst immer genau wüsste, was warum wohin gehört. Viel zu oft werden die Bilder zu einem Wirbelwind aus Farben, der allenfalls einer Traumlogik folgend die Leinwand in Trümmern legt. Der Anblick ist oft einmalig berauschend und dabei der beeindruckende Beweis, dass im Reich der Mitte ganz eigene Animationswerke entstehen können.
Ich trauere, also bin ich
Dass Menschen durch Zufall in einer versteckten magischen Welt landen, ist natürlich kein übermäßig origineller Einfall. Ob es nun die Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland und Der Zauberer von Oz sind oder die zahlreichen Animes, die mit einem solchen Szenario arbeiten, Referenzen gibt es mehr als genug. Chihiros Reise ins Zauberland dürfte an der Stelle immer wieder erwähnt werden. In beiden Fällen landet ein Mädchen, das mit ihrer Familie nicht eben glücklich ist, in einer magischen Welt, wo es körperlicher Arbeit nachgehen muss und dabei sonderbaren Figuren begegnet. Die beiden Protagonistinnen sind dabei jedoch kaum zu vergleichen: Wo Chihiro noch ein neugieriges, manchmal aufmüpfiges Wesen war, da wird Shenxiu ausschließlich durch ihre Trauer definiert. Sonderlich tiefgründig ist das nicht. Es ist zudem recht anstrengend, wenn man sie in Deep Sea über weite Strecken lediglich wimmern und weinen hört, sie ansonsten nichts tut oder sagt.
Ein weiteres Manko: Zwischenzeitlich ist der Film so fasziniert von den eigenen visuellen Mitteln, dass dabei die Geschichte auf der Strecke bleibt. Da geht es dann nur noch darum, die Kreaturen zu zeigen, anstatt die Handlung mal voranzutreiben. Aber es ist schön anzusehen. Später gewinnt Deep Sea dann auch an Substanz, wenn Xiaopeng doch mal anfängt, tatsächlich etwas zu erzählen. Es reicht sogar für einen Twist, selbst wenn sicher nicht alle glücklich darüber sein werden. Doch auch wenn der Inhalt nicht ganz mit der Verpackung mithalten kann, insgesamt ist das Unterwasserabenteuer sehr sehenswert, kombiniert emotionale Szenen mit solchen, die unterhalten oder einen auch nur staunen lassen. Wer die Gelegenheit hat, sollte sich den Film daher nicht entgehen lassen.
OT: „Shen Hai“
Land: China
Jahr: 2023
Regie: Tian Xiaopeng
Drehbuch: Tian Xiaopeng
Musik: Dou Peng
Berlinale 2023
Annecy 2023
Tribeca 2023
SLASH 2023
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