Eine Klassenfahrt führt eine Gruppe Schüler und Schülerinnen aus Israel – unter ihnen sind die Freunde Frisch (Yoav Bavly), Nitzan (Neomi Harari) und Ido (Leib Lev Levin) – durch Polen an verschiedene Erinnerungsstätten des Holocaust. Doch dem Schrecken des Krieges begegnet man nicht, ohne dass er sich emotional auf einen auswirkt. Außerdem sind da noch die ganzen Konflikte und Gefühlsachterbahnen, die sich klassischerweise auf einer Klassenfahrt ereignen können.
Wird Frisch seine Liebe finden? Wie wird Nitzan den gestohlenen Schuh wieder los? Wie entwickelt sich Idos Beziehung mit seiner Freundin weiter? Kurz: Welche Auswirkungen hat die Reise auf ihre Freundschaft – und auf sie selbst?
Unausgesprochenes und der Schuh
Yosef (Ezra Dagan), der Opa von Omer Frischman, der sogar in Schindlers Liste – es gibt in Delegation auch eine direkte Referenz auf den Film – mitgespielt hat, erzählt den jungen Leuten an einer Stelle etwas über eine Anna, in die er früher verliebt war. Drehbuchautor und Regisseur Asaf Saban lässt hier das Unausgesprochene für sich sprechen. Diesen erzählerischen Kniff erleben wir im Laufe der Handlung noch ein paar Mal und obgleich dieser Ansatz bei der unvollständigen Geschichte über Anna mitunter am wirkungskräftigsten ist, funktioniert er auch danach noch sehr gut und lässt die Zuschauer gewissermaßen mit ihren eigenen Vermutungen alleine. Hier muss man auch herausstellen, dass das emotionale Echo besonders durch die schauspielerische Leistung von Ezra Dagan verstärkt wird, der sehr ausdrucksstark spielt.
Dadurch dass wir die Fragmente der Geschichten von Yosef mit unserer eigenen Phantasie ergänzen müssen, findet eine Begegnung mit der eigenen Erinnerung statt, die man beispielsweise durch Besuche von Gedenkplätzen oder Filme an die Gräuel des Krieges hat. Tatsächlich sehen wir während der Fahrt immer wieder auch Ausschnitte aus Filmen im Bildschirm des Busses; eine Meta-Referenz auf das Medium; Filme als Erinnerungsbrücken. Neben den Geschichtsfragmenten des Holocaust-Überlebenden Yosef, sind es vor Allem die Orte und Gegenstände, die auf die Schüler und Schülerinnen eine Wirkung haben. So spenden sie sich beispielsweise gegenseitig Trost. An einer Gedenkstätte wartet Nitzan plötzlich, bis sie alleine ist und stiehlt einen Schuh.
Besonders eine Szene im Schuhgeschäft eröffnet eine interessante Perspektive auf die Gefühlswelt von Nitzan. Obwohl der Moment pointiert erzählt ist, entsteht im Nachhinein der vage Eindruck, als hätte der Impact von den Fotos, die sie dort macht, auf die Geschichte beziehungsweise ihre Charakterentwicklung größer sein können. So schwebt die Szene etwas für sich alleine, gerade mit Blick auf ihren sonstigen Umgang mit dem Diebstahl, wenn sie den Schuh loswerden will. Auch hier sind die Zuschauer angehalten, sich selbst Gedanken zu machen.
Ein Blick auf die Figuren und den Titel
Spaß macht der Film besonders auf Grund der Dynamik und Harmonie zwischen den Figuren. Ihr Umgang untereinander, die Dialoge – das alles wirkt sehr authentisch und ausdrucksstark. Besonders Omer und seinem Opa Yosef hört man gerne bei ihren Gesprächen zu. Ido erscheint dabei noch am Distanziertesten. Hier gab es Momente, etwa auf der Party zum Ende hin, wo man sich fragt „Warum sind Frisch und Ido eigentlich Freunde?“, auch sein Umgang mit Nitzan hat teilweise etwas Inkonsistentes. Hier soll zweifellos Idos Gefühlsverwirrung porträtiert werden, das funktioniert aber nur halb. Zum einen wird nicht ganz deutlich, warum er nicht zu seinen Gefühlen steht, die er für Nitzan zu empfinden scheint, zum anderen hat die Dynamik zwischen Ido und seiner Freundin eine gewisse Kühle, die im direkten Vergleich mit den anderen Figurenkonstellationen hölzern erscheint.
Spannend ist auch der Titel: Delegation. Das Wort „delegieren“ bedeutet unteranderem etwas zu übertragen. Asaf Saban spannt einen subtilen, poetisch-romantischen Bogen, wenn seine Hauptfigur Frisch jemanden kennenlernt, der Anna heißt. Eine Referenz auf die Erinnerung seines Großvaters und ein Schluss für das Ungesagte. Es ist die Übertragung einer Geschichte, einer Erinnerung – wie es ja auch die Reise zu den Gedenkorten ist.
Aufmerksamkeit
Der Film, der auf der Berlinale 2023 läuft, schafft es, verschiedene Stimmungen auf geschickte Weise aufeinander abzustimmen. Alles wirkt wie aus einem Guss. Das gelingt unteranderem durch den Einsatz von Musik und gut gesetzten Schnitten. Wie bei den Geschichten des Überlebenden wird auch hier oft ein Stück weggelassen. Die Zuschauer müssen hier auch selbst mitdenken.
Durch ein wichtiges Ereignis – Frisch verlässt den Bus und der Bus fährt alleine weiter – bietet uns der Film ferner die Erkenntnis an, dass es wichtig ist, aufeinander zu achten, ja gerade wenn man befreundet ist, sich gegenseitig wahrzunehmen, zu „sehen“. Gleichzeitig ist es Teil der Selbstfindung von Frisch, das Aussteigen aus dem Bus die Art des Films zu sagen, dass er anfängt, seinen eigenen Weg zu gehen, respektive sich selbst zu suchen.
OT: „Ha’Mishlahat“
Land: Israel, Polen, Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Asaf Saban
Drehbuch: Asaf Saban
Musik: Assaf Talmudi
Kamera: Bogumił Godfrejów
Besetzung: Yoav Bavly, Neomi Harari, Leib Lev Levin, Ezra Dagan, Alma Dishy
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