Nach einem tragischen Verkehrsunfall, bei dem sie ihren Mann, einen bekannten Komponisten, sowie ihre Tochter verliert, ist Julie (Juliette Binoche) wie gelähmt vor Trauer und Schmerzen. Nach einer langen Zeit im Krankenhaus kehrt sie zurück in das Haus, in dem ihre Familie wohnte. Doch die Erinnerungen sind zu schmerzlich, sodass sie einen radikalen Neuanfang beschließt: mithilfe des Anwalts der Familie will sie das Haus so schnell es geht verkaufen, sie entlässt die Bediensteten und sucht sich eine neue Wohnung in Paris. Auch die Arbeit ihres Mannes bleibt nicht verschont, denn die noch unfertige Komposition, eine Musik „für das Fest Europa“, vernichtet Julie auf dem Weg von seinem Studio. Bevor sie gänzlich mit ihrem alten Leben abschließt, sieht sie noch einmal Olivier (Benoît Régent), einen Freund ihres Mannes und ein geheimer Bewunderer Julies, schläft mit ihm und hinterlässt ihn in dem mittlerweile gänzlich leergeräumten Haus.
Die Suche nach einer neuen Wohnung ist erfreulich kurz und da sie auf ihrem Privatkonto einiges an Geld gespart hat, hat es Julie auch nicht eilig, sich eine Arbeit zu suchen. Stattdessen freundet sie sich mit einer Hausbewohnerin (Charlotte Véry) an, deren Job in einem Nachtklub sie in den Augen der Nachbarn untragbar und anrüchig macht. Noch während sich Julie in ihrem neuen Leben einfindet, hält sie ausgerechnet die Musik ihres Mannes davon ab, endlich mit diesem zu beginnen und ihre Trauer zu vergessen. Als dann auch noch Olivier sie ausfindig macht und in den Nachrichten von einer letzten großen Symphonie ihres verstorbenen Mannes die Rede ist, wird Julie wieder in ihr altes Leben hineinzogen.
Blau ist die Freiheit
Vier Jahre nachdem er in dem Mammutprojekt Dekalog die Relevanz der Zehn Gebote auf die heutige Welt untersucht hatte, widmete sich der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski in einem weiteren drei Filme umfassenden Projekt den Idealen der Französischen Revolution, also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, versinnbildlicht in den Farben der französischen Flagge. Bereits Drei Farben: Blau konnte wie viele andere Werke des Polen die Kritiker überzeugen, gewann unter anderem den Goldenen Löwen auf den Filmfestspielen in Venedig und gilt zusammen mit den beiden anderen Filmen der Trilogie als einer der besten Filme des Regisseurs. Mit Drei Farben: Blau legte Kieślowski einen bewegenden Film über Trauer und Schmerzen vor, und den Wert wirklicher Freiheit, die zunächst einmal beim Individuum beginnt.
Wer mit anderen Filmen Kieślowskis vertraut ist, wird es nicht weiter wundern, dass ein Thema nicht bloß einen erzählerischen Aspekt bildet, sondern vielmehr sich noch in der Form wiederfindet. Immer wieder stößt man auf die Farbe Blau, wie beispielsweise im öffentlichen Schwimmbad, welches Julie besucht, oder eben in der Kameraführung, wird doch über viele Einstellungen ein blauer Filter gelegt. Jedoch ist es nicht die Gefühlskälte, die man gemeinhin mit einer solchen Farbe assoziiert, sondern mehr der Versuch einer Distanzierung von einem alten Leben, welches sich immer wieder einen Weg in die alltägliche Routine bahnt. Freiheit ist für die von Juliette Binoche gespielte Julie nichts weniger als das Vergessen um dieses vergangene Glück und damit den Schmerz über den Verlust, doch tatsächlich scheint mit dieser Überwindung zunächst einmal eine Auseinandersetzung ein herzugehen. Wie auch viele andere Figuren in Drei Farben: Blau sind es Spuren der eigenen Biografie, eines Verlustes oder eines Konfliktes, der einem den Weg zur wirklichen Freiheit verwehrt.
Spuren eines vergangenen Lebens
Immer wieder wird Julie, wie von einer Art Geist, von jener Musik eingeholt, die ihr Mann vor seinem Tode komponiert hatte. Das unfertige Stück beschäftigt sie mehr als es ihr lieb ist, verlangt nach einer genauen Analyse, was sich nicht nur in einem emotionalen Leiden, sondern auch in einem körperlichen Leiden zeigt. Die Musik, in Kombination mit der Farbsymbolik wird zu einem Zugang der jungen Frau in einer anderen Sphäre, die der Erhabenheit, der Wahrhaftigkeit und der Schönheit, wie es Kieślowski schon in der Hauptfigur seines Meisterwerks Die zwei Leben der Veronika zeigte. Juliette Binoche spielt sensibel und sehr glaubhaft eine Frau, die vor einer Erinnerung und damit den Spuren ihres alten Lebens fliehen will, aber immer wieder von diesem heimgesucht wird.
Darüber hinaus interessiert sich Kieślowski zudem für die Figur des Künstlers an sich, ein Charakter, mit dem er bereits mehrfach in seinem Werk liebäugelte. Die Erinnerung an ihren Mann, den Komponisten wird überlagert von einer Öffentlichkeit, die nach einem Zugang zu dem Leben dieses Künstlers haben will, der irgendwie allen gehört hat, wie es eine Reporterin Julie zu erklären versucht. In diesem Kontext ist die Abwendung von ihrem alten Leben auch eine von eben jenem Medienzirkus, der die Person ihres Mannes für sich einnehmen will.
OT: „Trois couleurs: Bleu“
Land: Frankreich, Polen
Jahr: 1993
Regie: Krzysztof Kieślowski
Drehbuch: Krzysztof Kieślowski, Krzysztof Piesewicz
Musik: Zbigniew Preisner
Kamera: Sławomir Idziak
Besetzung: Juliette Binoche, Benoît Régent, Hélène Vincent, Charlotte Véry, Emmanuelle Riva
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
César | 1994 | Bester Film | Nominiert | |
Beste Regie | Krzysztof Kieslowski | Nominiert | ||
Beste Hauptdarstellerin | Juliette Binoche | Sieg | ||
Beste Nachwuchsdarstellerin | Florence Pernel | Nominiert | ||
Bestes Drehbuch | Krzysztof Kieślowski, Krzysztof Piesewicz | Nominiert | ||
Beste Musik | Zbigniew Preisner | Nominiert | ||
Beste Kamera | Slawomir Idziak | Nominiert | ||
Bester Schnitt | Jacques Witta | Sieg | ||
Bester Ton | Jean-Claude Laureux, William Flageollet | Sieg | ||
Europäischer Filmpreis | 1994 | Bester Film | Nominiert | |
Golden Globes | 1994 | Bester ausländischer Film | Nominiert | |
Beste Hauptdarstellerin (Drama) | Juliette Binoche | Nominiert | ||
Beste Musik | Zbigniew Preisner | Nominiert | ||
Venedig | 1993 | Goldener Löwe | Sieg |
Venedig 1993
Toronto International Film Festival 1993
Telluride Film Festival 1993
Locarno 2014
Berlinale 2023
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