Ein Filmteam fährt in den Nordosten der Türkei, um eine Dokumentation über eine ungewöhnliche Art des Andenkens zu drehen. Jeden Freitag kocht die kurdische Mutter Hatice (Tudan Ürper) eine Suppe, um sich an ihren Sohn zu erinnern, der vor 26 Jahren spurlos verschwand und vermutlich vom türkischen Geheimdienst gekidnappt wurde. „Unsichtbares Denkmal“ nennt Regisseurin Simone (Katja Bürkle) diese Praktik. Sie soll das Thema ihres Films werden. Aber die Reise in das politisch umkämpfte Gebiet ist nicht ganz ungefährlich. Das zeigt sich schon daran, dass das Treffen des kleinen Teams mit dem Menschenrechtsanwalt Eyüp (Aziz Çapkurt) von zwei finsteren Typen in einem schwarzen Monster-SUV überwacht wird. Der eine, so wird sich herausstellen, heißt Zafer (Ahmet Varli) und ist der Nachbar von Leyla (Aybi Era), der kurdischen Übersetzerin des Teams. Leyla ist mit ihm auch dadurch verbandelt, dass sie seiner kleinen Tochter Melek (Çağla Yurga) Nachhilfe in Englisch gibt. Diese Figurenkonstellation führt zu tragischen Verwicklungen, die der Film in drei Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven aufblättert.
Geister der Vergangenheit
Man kann den sechsten Kinofilm der Deutsch-Kurdin Ayşe Polat mit guten Recht einen Mystery-Thriller nennen. Doch entfalten sich die Geheimnisse um die Geister der Vergangenheit nicht in der genretypischen Beschwörung des Surrealen. Die Kamera (Patrick Orth) bleibt vielmehr nahe an der Realität, der Stil der Bilder ist klar und dokumentarisch. Der soghafte Thrill entsteht allein durch das Unheimliche der Überwachung. Er beginnt anfangs noch verhalten, indem die Kamera immer wieder die Perspektive der Überwacher einnimmt. Nach und nach steigert sich das Gefühl der Paranoia dann furios, wenn langsam klar wird, dass auch Geheimdienstagent Zafer beobachtet wird. Ihm werden Handy-Videos zugespielt, die ihn in bei seiner Tätigkeit und dann auch im Zusammensein mit seiner Tochter Melek zeigen.
Zudem scheint das kleine Mädchen über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen, aber auch diese Spur Richtung Mystery wird bald entzaubert und auf so etwas Banales wie den Zugang zum Handy des Vaters zurückgeführt. Die Strategie dabei: nicht um jeden Preis verrätseln, sondern die politischen und sozialen Verhältnisse im Zusammenleben zwischen Türken und Kurden sichtbar zu machen. Wenn die kleine Türkin Melek plötzlich ein paar kurdische Worte spricht, dann bringt das ihre Mutter Sibel (Nihan Okutucu) gegen die kurdische Nachhilfelehrerin auf. Nicht, weil sie selbst etwas gegen die Kurden hätte, wie sie beteuert. Sondern weil man nie weiß, was die anderen Türken davon halten.
Spirale in den Abgrund
Es ist ein kluger Schachzug von Regisseurin und Drehbuchautorin Ayşe Polat, ein kleines, unschuldiges Mädchen ins Zentrum der Verwicklungen um politische Verbrechen und finstere Geheimdienste zu rücken. Ihr unverdorbener Blick treibt die Fallhöhe zwischen Politik und dem Wunsch nach einem normalen Leben ins Unermessliche. Dass sogar ein Kind in die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes hingezogen wird, lässt die Barbarei und die Gräueltaten gegen die Kurden umso greller erscheinen. Die andere faszinierende Figur ist ihr Vater Zafer. Der Spitzel wird selbst zum Opfer des Spitzelsystems. Diesem Kontrollverlust weiß er nicht anders zu begegnen, als dass er permanent heimlich alles, was er tut, mit dem Handy filmt, selbst die alltäglichsten Dinge. Der Mann spürt, wie sich die Schlinge um ihn immer enger zieht, aber er treibt selbst die Spirale des Überwachungssystems weiter an, die ihn in den Abgrund zieht.
Dank seiner Spannungsdramaturgie funktioniert Im toten Winkel wie ein klassischer Unterhaltungsthriller. Aber anders als dort ist es nicht beliebig, ob man jede einzelne Verwicklung am Ende wieder entwirren kann. Der Film möchte die Traumata mehrerer Generationen verständlich machen. Um deren ganzes Ausmaß zu begreifen, muss man mit wachen Augen und geschärften Sinnen bei der Sache sein. In diesem Punkt scheiden sich die Bedürfnisse von Aufklärung und Thrill. Womöglich wird nicht jeder Zuschauer beim ersten Sehen mitbekommen, wie die Geschichte des kleinen Mädchens mit dem Schicksal der Suppe kochenden alten Frau zusammenhängt. Das ist ein kleines Manko eines ansonsten überzeugenden Experiments.
OT: „Im toten Winkel“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Ayşe Polat
Drehbuch: Ayşe Polat
Musik: Martin Rott, Matthias Wolf
Kamera: Patrick Orth
Besetzung: Katja Bürkle, Ahmet Varli, Çağla Yurga, Aybi Era, Max Hemmersdorfer, Nihan Okutucu, Tudan Ürper
https://www.youtube.com/watch?v=tVh4_frMEcU
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