Das Blau des Kaftans Le bleu du caftan
© Arsenal Filmverleih

Das Blau des Kaftans

Das Blau des Kaftans Le bleu du caftan
„Das Blau des Kaftans“ // Deutschland-Start: 16. März 2023 (Kino) // 4. August 2023 (DVD)

Inhalt / Kritik

Mina (Lubna Azabal) und Halim (Saleh Bakri) betreiben eine kleine Kaftan-Schneiderei in der Altstadt des marokkanischen Salé. Doch seit Mina krank ist, kommen sie mit der Arbeit nicht mehr nach. Der Familienbetrieb ist gefährdet, obwohl Halim ein „Maalem“ ist, also ein Schneidermeister, der die Kunst der handgestickten Verzierungen von seinem Vater gelernt hat, nach Jahrhunderte alter Tradition. Vielleicht sind Mina und Halim auch gerade deshalb in Schwierigkeiten, denn die Kunden schätzen diese Kunst nicht mehr. Sie wollen Billiges und „Fast Fashion“. Für sie macht es keinen Unterschied, ob ein Kaftan mit der Hand oder mit der Maschine genäht ist, was Halim strikt ablehnt. Selbst die Lehrlinge, die das Ehepaar schon eingestellt hat, wollen sich nicht wirklich auf die echte Handwerkskunst einlassen. Sie sind schnell wieder weg. Nur der junge Youssef (Ayoub Missioui), den das Paar gerade anzulernen versucht, scheint anders zu sein. Und das in mehrfacher Hinsicht. Er wird die eingespielte Balance des Liebesarrangements zwischen Mina und Halim ins Wanken bringen.

Hommage ans Handwerk

Sanft gleitet die Kamera über den Stoff. Sie durchforscht in Nahaufnahme den Faltenwurf wie ein Gebirge, feiert das Leuchten dieses ganz speziellen Petrol-Blaus. Wenn dann Hände ins Spiel kommen, meint man die Feinheit des Gewebes zu spüren, seine samtweiche Anmutung, das elegante Fließen. Aus diesem Material soll der schönste Kaftan (ein knie- bis knöchellanges, reich verziertes Hemd) entstehen, den Halim seit Jahren geschneidert hat. Auch von ihm sieht man anfangs nur Details: Finger, Hände, Kinn. Das Bild dieses Kammerspiels setzt sich mosaikartig zusammen, Teil für Teil, Stück für Stück. Zu früh das Geheimnis dieses Mannes und dieser Ehe zu verraten, würde einen Teil ihrer Schönheit zerstören.

Man kann gar nicht anders, als den zweiten Film der Marokkanerin Maryam Touzani mit ihrem Debüt Adam zu vergleichen. Auch dieser Film huldigt dem Wert eines Handwerks (dem Backen), auch er ist ein Kammerspiel, das sich überwiegend in Innenräumen entfaltet, und auch in „Adam“ spielt Lubna Azabal eine der drei Hauptrollen. Aber trotz der formalen und thematischen Ähnlichkeiten ist Das Blau des Kaftans ein ganz eigenständiges Werk. Es ist, wie die Regisseurin im Interview erzählt, geprägt von ihrer Begegnung mit einem Friseur, der ein Doppeleben zu führen schien, ohne dass sie ihn direkt darauf ansprach. Denn Homosexualität ist in Marokko nicht nur ein gesellschaftliches und vor allem religiöses Tabu, sondern wird noch immer mit Gefängnis bestraft. Zudem verdankt sich die Inspiration zur Hommage an die traditionelle Schneiderkunst dem eigenem Kaftan von Maryam Touzani. Der ist inzwischen 50 Jahre alt und wurde einst von ihrer Mutter getragen.

Vor dem inneren Auge

Zum Schnittmuster des Films gehört, dass wir von seinem zentralen Konflikt nicht durch Worte, sondern durch alltägliche Bilder und Blicke erfahren. Morgens sehen wir Mina im Schlafzimmer beten, während ihr Mann noch im Bett liegt. Und nach der Arbeit geht Halim oft in den Haman, das traditionelle Dampfbad. Männer sind hier unter sich und es kommt vor, dass einer den anderen mit stummen Gesten in eine Einzelkabine einlädt. Was dort passiert, enthält uns die wunderbar einfühlsame Kamera von Virginie Surdej vor. Wir sehen es vor dem inneren Auge trotzdem, dank der vibrierenden Intensität, mit der sie die erotischen Anziehungskräfte zum Leuchten bringt, etwa die zwischen Halim und Lehrling Youssef.

Weil sich alles in und zwischen den Seelen einer nach und nach sichtbar werdenden Dreiecksbeziehung abspielt, liegt die ganze Kraft des Films in seinen Bildern. Es ist ein kleines Wunder, wie die Kamerafrau die alltäglichsten Szenen in Gemälde verwandelt, sie in warmes Licht taucht, die Gesichter streichelt und durch die Augen ins Innere blickt. In seiner Detailtreue verlässt sich der Film auf den Tanz der Blicke, auf die Choreographie leichter Berührungen und die Koloratur der Tonlagen. Das hat seinen inhaltlichen Sinn auch in dem Versteckspiel vor staatlicher Repression. Aber die faszinierende Bildästhetik mit ihrem Faible für sanft gleitende Bewegungen offenbart eine weitere Bedeutungsschicht. Nur eine solch sorgfältig ausgeklügelte Kameraarbeit und Lichtdramaturgie kann es mit dem Niveau der Nähkunst aufnehmen, die vom Aussterben bedroht ist und für die der Film ein eindrückliches Requiem komponiert. Verwoben sind hier gleich drei Hommagen: an die Liebe, die Toleranz und das Loslassen. Eine bewegende Verbeugung vor den ganz großen Themen des Menschseins, gekleidet in die stille Größe einfacher Leute.

Credits

OT: „Le bleu du caftan“
Land: Frankreich, Marokko, Belgien, Dänemark
Jahr: 2022
Regie: Maryam Touzani
Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch
Musik: Kristian Eidnes Andersen
Kamera: Virginie Surdej
Besetzung: Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui

Bilder

Trailer

Kaufen / Streamen

Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.




(Anzeige)

Das Blau des Kaftans
fazit
Mit „Das Blau des Kaftans“ widmet sich Regisseurin Maryam Touzani nach „Adam“ erneut den bedrohten Handwerkstraditionen ihrer marokkanischen Heimat. Ihr äußerlich „kleiner“ und leiser Film besticht durch die menschliche Größe, in die er die Schönheit und Tragik unser aller Leben taucht.
Leserwertung60 Bewertungen
4.4
9
von 10