Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts. Wie bereits sein Vater träumt Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) davon, Ethnologe zu werden und die Welt zu bereisen. Einen ersten Einblick erhält er, als eine Delegation von Herero und Nama aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika nach Berlin reist. Unter diesen befindet sich auch Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die als Dolmetscherin der Gruppe auftritt. In Gesprächen mit ihr lernt Hoffmann sie als gebildeten und kulturell interessierten Menschen kennen, was das geläufige Weltbild und die damit verbundene Rassentheorie in Frage stellt. Als der junge Student in Folge neue Thesen aufstellt, trifft er auf Widerstand innerhalb der universitären Lehre. Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) rät ihm dann auch dringend davon ab, diesen Irrweg fortzusetzen. Als es Jahre später zu einem Aufstand der Herero und Nama kommt, schließt Hoffmann sich der Expedition nach Afrika an, um zurückgelassene Artefakte der fremden Kultur zu sammeln. Gleichzeitig hofft er, Kezia noch einmal wiedersehen zu können …
Die verdrängte Geschichte eines Völkermords
Dass die Geschichte der Kolonisierung anderer Länder mit zahlreichen Grausamkeiten und menschenverachtendem Verhalten einherging, ist kein wirkliches Geheimnis. Dabei spielt es keine Rolle, ob es nun England oder Frankreich war, Portugal oder Belgien – der Expansionsdrang der europäischen Großmächte war immer mit viel Blutvergießen verbunden. Das gilt natürlich auch für Deutschland, das lange in Afrika unterwegs war und dabei viel Elend über die Menschen gebracht hat. In den letzten Jahren wuchs hierzulande langsam das Bewusstsein für die grausame Vorgeschichte, weshalb es nur folgerichtig ist, dass man sich bei Der vermessene Mensch des Themas auch im Rahmen eines Kinofilms annimmt und auf diese Weise die Aufarbeitung weiter vorantreibt.
Auf den ersten Blick ist Lars Kraume auch der Passende, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Schließlich hat sich der Regisseur und Drehbuchautor schon mehrfach mit dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte beschäftigt. In Der Staat gegen Fritz Bauer (2015) erzählte er von der schwierigen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen. Bei Das schweigende Klassenzimmer (2018) wandte er sich der Unterdrückung in der DDR zu. In Der vermessene Mensch reiste er nun noch weiter zurück in die Vergangenheit. So beginnt seine Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Delegation, die im Zuge der Deutschen Kolonial-Ausstellung nach Berlin reist. Schwerpunkt des Dramas ist jedoch der Genozid, der zwischen 1904 und 1908 stattfand und Zehntausende von Herero und Nama das Leben kostete. Ein Genozid, der lange nicht als solcher von deutscher Seite bestätigt wurde. Bis heute tut man sich schwer mit der eigenen Verantwortung.
Die Wissenschaft der Ideologie
Ungewöhnlich ist die Art und Weise, wie sich Kraume dieser Geschichte annimmt. So stehen im Mittelpunkt weder die Opfer noch die Täter, auch wenn beide natürlich immer wieder Thema sind. Stattdessen ist das Drama, das auf der Berlinale 2023 Weltpremiere feierte, aus Sicht eines jungen Wissenschaftlers erzählt. Der ist zunächst sehr an einem kulturellen Austausch interessiert, wenngleich er trotz allem geprägt ist von der damaligen Zeit. Doch je mehr er Zeuge der Verbrechen wird und je mehr er von den Regeln der dogmatischen Wissenschaft eingefangen wird, umso mehr geht dieses echte Interesse verloren. Das zumindest behauptet der Film. So ganz gelingt es Der vermessene Mensch aber nicht, diese Entwicklung glaubwürdig aufzuzeigen. So gibt es zwar einen größeren Wendepunkt. Aus diesem nur wenige Minuten dauernden Moment aber alles abzuleiten, ist ziemlich wenig – zumal die Figurenzeichnung nicht ganz konsequent ist.
Hinzu kommt, dass dieses Thema etwas von den Verbrechen ablenkt. Aus der Geschichte des Völkermords wird so ein Film über einen jungen Deutschen, der das alles nur als Hintergrund verwendet. Wobei das Thema an sich natürlich interessant ist. Dass ausgerechnet die vermeintlich neutrale und rationale Wissenschaft einer Ideologie hinterherrennt und nur Beweise für diese sucht, wäre einen eigenen Film wert gewesen. Irritierend ist in dem Zusammenhang, dass die Kirche so gut wegkommt, obwohl deren Missionierung aus der gleichen kulturellen Überheblichkeit heraus durchgeführt wurde. Für ein allumfassendes Zeitporträt ist das hier dadurch zu wenig, zumal viele Figuren in Der vermessene Mensch recht stereotyp sind. Außerdem reichte das Budget offensichtlich nicht, um in der Tradition früherer Monumentalfilme eine vergangene Zeit wiederaufleben zu lassen. Was bleibt, sind aber die gute Absicht sowie eine Reihe interessanter Denkanstöße, welche die überfälligen Diskussionen vorantreiben dürfen.
OT: „Der vermessene Mensch“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Lars Kraume
Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas
Kamera: Jens Harant
Besetzung: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Deutscher Filmpreis | 2023 | Bestes Szenenbild | Sebastian Soukup | Nominiert |
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