Bei einem Jobinterview nach seinen Stärken gefragt zu werden, ist Standard. In der Welt von Jen (Máiréad Tyers) gibt es allerdings auch noch einen weiteren Standard: die Frage nach der Superkraft. Jeder Mensch entwickelt nämlich eine an seinem 18. Geburtstag. Na gut, nicht bei jedem kommt sie so pünktlich. Einige erhalten sie erst am nächsten Tag. Oder zwei Wochen später. Manchmal dauert es auch einfach nur, sie genau zu bestimmen. Bei Jen liegt der Fall jedoch ein wenig anders: Sie ist bereits 25 Jahre alt und hat immer noch keine erkennbare Superkraft. Das macht ihr mehr aus, als sie sich anmerken lässt …
Toilettenhumor im Serienformat
Das verrückte Hotel – Fawlty Towers, Monthy Python’s Flying Circus, Mr. Bean, Black Adder, Not the Nine O’Clock News, Extras, Black Books, Coupling – Wer mit wem?, I’m Alan Patridge, The Young Ones … diesen Serien ist nicht nur gemein, dass sie aus Großbritannien stammen und äußerst lustig sind. Sie wurden darüber hinaus nicht von einer ehemaligen Stand-up-Comedienne geschrieben, für die weibliche Anatomie, Hygieneartikel oder Exkremente anscheinend das Nonplusultra des Witzearsenals darstellen. Die ersten vierzig Sekunden von Extraordinary reichen bereits aus, um zu entscheiden, ob das auf Serienschöpferin Emma Moran zurückgehende Produkt positive Reaktionen im Humorzentrum des Zuschauers auslösen wird. In diesen vierzig Sekunden erzählt Jen im Jobinterview (unter dem Einfluss der Superkraft ihres Gegenübers, weshalb sie die Wahrheit sagen muss), dass sie sich auf dem Weg beinahe in die Hose geschissen hätte, dass ihr Tampon nicht richtig säße und dass sie sich letzte Nacht erfolglos zum Orgasmus zu onanieren versucht hätte. Wem so etwas überhaupt nicht zusagt, kann hier also potenziell drei Stunden, fünfzig Minuten und zwanzig Sekunden einsparen, denn sonderlich variantenreich wird es in der Hinsicht nicht.
Extraordinary ist zwar eine britische Comedyserie, aber leider eben auch eine moderne. Das TV-MA-Rating ist angemessen, sie scheint jedoch eigentlich eine jüngere Zielgruppe erreichen zu wollen. Immerhin wird das nicht wie in Tell Me Everything (bei welcher Tyers auch in einer Folge zu sehen ist) über den Sprachduktus der Figuren deutlich. Sicher gibt es hier und da einen nicht ganz unamüsanten Scherz, und der Zuschauer wird sich ab und zu durchaus dabei ertappen können, zu schmunzeln – wenn es einmal passt. Wer aber bei Programmen von etwa Amy Schumer oder Ali Wong bestenfalls nur die Augen verdrehen kann, der mag vielleicht während der ersten paar Episoden immer wieder auf die verlockende Aus-Taste der Fernbedienung schielen. Vor allem bei der Klitoris-Szene, auf die wir leider, aber zum Glück hauptsächlich aus anderen Gründen, noch zu sprechen kommen werden.
Unverbrauchte Gesichter
Trotzdem kann es nur beim Schielen bleiben. Bei aller Kritik muss nämlich auch das Positive an Extraordinary ins Feld geführt werden. Was bei dieser Serie absolut richtig gemacht wurde, ist das Casting. Die Besetzung besteht aus weitgehend „unverbrauchten“ Gesichtern, welche zuversichtlich stimmen, dass der schauspielerische Nachwuchs gesichert ist, wenn die alte Riege einmal endgültig abtritt. Die meisten Männerrollen sind hier natürlich ziemlich undankbar, aber allem Anschein nach lässt sich keiner der Akteure vom Skript zurückhalten. Überraschenderweise sind aber auch die weiblichen Charaktere nicht gegen mangelhafte Schreibe gefeit. Jen kann ein richtig unangenehmer Mensch sein, was die Serie jedoch nicht zu verstehen scheint. Sie erpresst aus kleingeistigen Motiven ihre jüngere Halbschwester Andy (Safia Oakley-Green); zwingt diese, sich bei einer Preisverleihung zu ihren Ehren in der Schule vorm Publikum zu blamieren. Die von Andy vorgelesene Dankesrede hat nämlich Jen geschrieben. Dem Humorniveau der Serie treu bleibend, kann dieser Vortrag lamentablerweise nicht stattfinden, ohne den vermeintlichen explosiven Durchfall der Oratorin zur Sprache zu bringen.
Wo sind die Kräfte hin?
Die Prämisse von Extraordinary ist nicht uninteressant, wenn auch nicht unbedingt so originell, wie manche das zu glauben scheinen. In der Zeichentrickserie Norman Normal etwa musste der titelgebende Protagonist schon vor über zwanzig Jahren damit zurechtkommen, als einziger aus seiner Familie keine Superkräfte zu haben. Hier ist das Ganze eben auf einen globalen Rahmen ausgedehnt. Die Fähigkeiten sind hier auch nicht Folge eines Unfalls, sondern natürlichen Ursprungs. Sonderlich viel Worldbuilding scheint im Vorfeld allerdings nicht stattgefunden zu haben. In der ersten Episode wird zwar einiges schön im Hintergrund etabliert (zum Beispiel die ganzen Menschen mit Flugfähigkeiten, die sich als lebende Taxis anbieten), im weiteren Verlauf geht das aber etwas verloren. Generell ist es die bessere Entscheidung, zu wenig zu verraten statt alles überzuerklären, aber wie sich in Erfahrung bringen lässt, war das Superheldenelement anfangs gar kein Bestandteil der Serienidee, und das wird nur allzu häufig deutlich.
In der bereits erwähnten Klitoris-Szene (Folge zwei) versuchen ein paar Jungs voreinander zu vertuschen, dass sie wenig Ahnung von weiblicher Anatomie haben. Zum Humor wurde bereits genug gesagt, weshalb diese Szene nun nicht in ihrer Eigenschaft als zusätzliches Negativbeispiel angeführt wird. Anhand ihrer soll eher aufgezeigt werden, wie wenig die Serie ihr eigenes Setting versteht. Jener Charakter, der auserwählt wurde, an der unfertigen Zeichnung einer Vulva die Klitoris zu markieren, hat nun ausgerechnet die Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen. Weltweit. Sodass er der einzige ist, der weiß, was als nächstes passiert. Sowohl er als auch die Serie scheinen das aber zu vergessen, denn statt dem Tenor der Szene zu folgen und später erworbenes Wissen in der aus seiner Sicht bereits gelebten Vergangenheit einzusetzen, um vor den anderen anzugeben und lässig die richtige Stelle zu kennzeichnen, wird er nur durch einen dummen Zufall davor bewahrt, vermeintlich sein Gesicht zu verlieren. Apologeten mögen einwenden, dass seine Zeitmanipulation an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, was auch stimmt. Aber so wie die Sache inszeniert ist, hätte der Charakter alle Schritte unternommen, um seine Fähigkeit hier einzusetzen. Dafür ist aber eben auch ein fähiger Autor vonnöten. Dieser hätte sich allerdings von vorneherein gar nicht erst mit so einer überflüssigen Szene aufgehalten.
Hoffnung auf die zweite Staffel
Die zweite Staffel, welche bereits vor Erscheinen der ersten bestellt wurde, dürfte sich wohl stärker mit Jens Superkraft beschäftigen. Momentan ist es selbstverständlich nur eine Theorie, aber die Serie gibt dem Zuschauer bisher mindestens zwei brauchbare Indizienbeweise an die Hand, um zu dem Schluss zu kommen, dass Jen die Kräfte anderer Leute deaktivieren kann – vergleichbar etwa mit Leech aus den X-Men-Comics oder X-Men: Der letzte Widerstand, nur dass jener das weder verhindern noch steuern konnte und es hier eben nicht permanent und automatisch geschieht. Die ideologische Interpretation dessen verspricht einen interessanten Diskurs, für den hier jedoch leider nicht der richtige Platz ist. Gerade in den letzten Folgen rückt die Serie aber etwas von ihrem Humor ab und fokussiert sich stärker auf die eigentliche Geschichte. Das kann durchaus neugierig auf die zweite Staffel machen, in welcher dann hoffentlich dahingehend weitergemacht wird.
OT: „Extraordinary“
Land: UK
Jahr: 2023
Regie: Toby MacDonald, Jennifer Sheridan, Nadira Amrani
Drehbuch: Emma Moran
Musik: Will Gregory
Kamera: Carlos Catalán, Daniel Stafford-Clark, Álvaro Gutiérrez
Besetzung: Máiréad Tyers, Sofia Oxenham, Bilal Hasna, Luke Rollason, Shaun Mason, Darcey Porter-Cassidy, Siobhán McSweeney, Sam Haygarth, Robbie Gee, Safia Oakley-Green
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