Im Jahre 2033 steht Venezuela kurz vor einer Präsidentschaftswahl, die für hitzige Diskussionen im Land sorgt. Menschen wie den Reporter Alain (Gabriel Agüero) berührt dies jedoch wenig. Wie viele seiner Kollegen hat er das Vertrauen in das System verloren. Jedoch reißt ihn eine Neuigkeit aus seiner gewohnten Routine: Sein Freund und Autor Salvador (Erich Wildpret) steht im Gespräch wegen eines Sachbuchs um ungeklärte Morde und Vermisstenfälle in den 2010er Jahren. Alain trifft sich mit ihm und die beiden beginnen eine Beziehung, in deren Verlauf Salvador merkt, dass etwas mit Alain nicht stimmt. Als er immer wieder nachfragt, erzählt ihm sein Geliebter von seiner Zeit als Teenager (dann gespielt von Luis Carlos Boffill) sowie seiner Freundschaft zu seinen Mitschülerinnen Eli (Eliane Chipa), Loló (Johanna Juliethe) und Cacá (Skati Maal). In der Hochschule waren die drei unzertrennlich und teilen alles miteinander: die Drogen, den Alkohol und den Sex. Er erzählt Salvador von ihren Streichen, die bald schon nicht mehr nur harmlos sind, sondern über das Schicksal ihrer Eltern oder Lehrer entscheiden, all jenen also, die ihnen vielleicht im Wege standen. Zudem verbindet sie die Verurteilung eines Lehrers an ihrer Schule, der im Gefängnis grausam hingerichtet wurde und einen von ihnen ermordet haben soll.
Trotz der Beteuerungen Alains, die Vergangenheit ruhen zu lassen, macht sich Salvador auf die Suche nach Zeugen und Akten, welche die Geschichte seines Freundes bestätigen oder erweitern können. Immer mehr kommt er dabei nicht nur der Historie des Jahres 2017 nach, einem Jahr der Unruhe und der Revolution in Caracas, sondern auch der Frage, ob der Lehrer wirklich der Mörder von damals war oder sich eine viel schlimmere Wahrheit hinter seiner Verurteilung verbirgt. Auch Alain kommen Zweifel, doch nicht jeder will, dass die beiden dem wahren Mörder auf die Spur kommen.
Visionen der Zukunft
In den Filmen des venezolanischen Regisseurs Hernán Jabes geht es immer wieder um Schicksalsgemeinschaften, Liebende oder alte Freunde, die ein Geheimnis umgibt. Bereits in Filmen wie Ramon oder Rock, Paper, Scissors ging es aber zugleich um eine weitere Ebene, denn die Geschichte der Figuren ist das Narrativ Venezuelas, einer Nation, bei der die Erinnerung an die Vergangenheit außerhalb von einigen patriotischen Reden und Denkmälern ein Tabu ist und daher ein problematischen Schatten auf die Gegenwart wie auch die Zukunft wirft.
Nicht wenige Besprechungen von Jezabel konzentrieren sich auf die Gruppe Jugendlicher sowie der nicht geringen Anzahl recht freizügiger Szenen, um einen Vergleich zu Larry Clarks Independent-Klassiker Kids herzuleiten. Auch wenn die Parallelen durchaus präsent sind, geht Jabes in seinem Film noch einen Schritt weiter, besonders durch die unterschiedlichen Zeitebenen. Die Verbindung der Ereignisse von 2017 mit denen der Zukunft betont die zeitliche Ebene, auf die Jabes scheinbar hinauswill, also, wie das Vergangene die Zukunft bestimmt. Der Reporter stößt dabei auf eine Mauer des Widerstands, zum einen durch divergierende Narrative von Personen und zum anderen aufgrund der Manipulation von Dokumenten. Diese Zukunftsvision, die Jabes kreiert, auf auf vielen Grauzonen gebaut, auf Halbwahrheiten, Lügen und Vermutungen, was es umso unwahrscheinlicher macht, dass man sich von den Traumata einer Geschichte lösen kann oder das Böse in der eigenen Mitte erkennt, bevor es wieder einmal zu spät ist.
Erinnerung und Erzählung
Ebenso wie Clark ist Jabes an der Generation interessiert, die mit dieser nicht verarbeiteten und totgeschwiegenen Vergangenheit leben muss. Was in Kids die Aids-Epidemie ist, sind bei Jabes die Manipulation sowie die Klassenunterschiede. Drogen und Sex sind Teile einer eskapistischen Fantasie, und die Streiche Ausdruck einer Generation, welche die Fehler der Alten wiederholt, die Grausamkeiten wie auch die Lügen. Luis Carlos Boffill und Gabriel Agüero spielen dabei zwei Versionen einer Figur, die sich von der Vergangenheit lösen will, aber immer tiefer in den Sog einer Lüge verrutscht. Jabes und Ko-Autor Eduardo Sánchez Rugeles heben in ihrem Drehbuch hervor, wie die Erzählung zu einem Ausweg wird, ähnlich den sexuellen Eskapaden der Jugend, die sich erfolglos versucht, von den Alten zu distanzieren. Die Geschichte arbeitet wiederholt mit der nebulösen Erinnerung der Hauptfigur, mit der Verbindung der Vergangenheit und der Gegenwart, was einen nicht unerheblichen Teil der Dramaturgie des Films ausmacht und mit einer sehr interessanten Auflösung aufwartet.
OT: „Jezabel“
Land: Venezuela, Mexiko
Jahr: 2022
Regie: Hernán Jabes
Drehbuch: Hernán Jabes, Eduardo Sánchez Rugeles
Musik: Tomás Barreiro
Kamera: Gerard Uzcategui
Besetzung: Luis Carlos Boffill, Eliane Chipa, Johanna Juliethe, Skati Maal, Gabriel Agüero, Erich Wildpret
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